Taktgeber und Teamleader bei der Digitalstrategie
Gesundheitsdienstleistungen, das Bürgeramt, der Verkehr: Die Aufgaben liegen auf dem Tisch. Die Bundesregierung hat die Digitalisierung als Priorität erkannt und angenommen, unterstrich Bundesdigitalminister Volker Wissing auf der Digitalkonferenz re:publica.
Volker Wissing nutzte das „Festival der digitalen Gesellschaft re:publica“ in Berlin, um sein Digitalprogramm vorzustellen. „Wir müssen das Analoge überwinden und Doppelstrukturen beenden“, sagte er und versprach: „Ich stelle mir ein digitales Deutschland ohne Zettelwirtschaft vor.“ Noch vor der Sommerpause werde er die Digitalstrategie der Bundesregierung präsentieren, doch dafür müssten noch einige Ministerien nacharbeiten. Mit dem bisher gelieferten sei er noch nicht zufrieden. Alle Ministerien müssten sich ihrer Verantwortung für die Digitalisierung stellen. „Wir müssen konsequent auf Digital setzen. Dazu gehört etwas Mut, aber den müssen wir jetzt aufbringen und das Momentum nutzen!“
Die drei sogenannten Hebelprojekte, die Wissing vorstellte, waren der Breitbandausbau, die Förderung von digitalen Identitäten und einheitliche technische Standards, um die Interoperabilität zu verbessern. Diese „Katalysatoren“ müsse allerdings jedes Ressort in eigener Verantwortung umsetzen.
Lust, etwas Neues auszuprobieren
Das ist eine Erkenntnis aus der Vergangenheit: Eine Digitalstaatsministerin im Bundeskanzleramt anzusiedeln, verwies er auf die CSU-Politikerin Dorothee Bär, die dieses Amt in der Merkel-Regierung ausübte, habe nicht funktioniert. Alle Ministerien müssten jetzt mitmachen. „Auch wenn man mir das vielleicht nicht so ansieht“, scherzte er, „habe ich Lust, etwas Neues auszuprobieren“.
Wissing will unter anderem den Breitbandausbau vorantreiben. Bis 2025 soll die Zahl der schnellen Internetanschlüsse verdreifacht werden. Bis 2030 soll dann auch der Rest von Deutschland eine „Vollversorgung“ mit Glasfasernetzen und 5G-Standard. bekommen. Außerdem wolle er die Verfügbarkeit von Daten erhöhen, die unter anderem der Staat sammelt, aber nur für sehr beschränkte Zwecke nutzt. Dazu sollen alle Ministerien „Datenlabore“ errichten, um die Daten zu sammeln und anonymisiert weiter verteilen zu können. Wissing versprach zudem „einheitliche technische Standards“, die das digitale Leben vereinfachen.
Freiheit im Internet ist bedroht
Bei einem Thema wurde der liberale Digitalminister sehr konkret. So sah er die Freiheit im Internet nicht nur durch die restriktive Netzpolitik autokratischer Regime wie Russland und China bedroht, sondern auch durch die EU-Kommission. Die plant, Handys und andere Geräte auf behördliche Anweisung nach Darstellungen sexualisierter Gewalt durchsuchen lassen zu können, um so gegen die Verbreitung von Kinderpornografie vorzugehen.
Diese sogenannte „Chatkontrolle“ sah Wissing als eine Bedrohung für die Freiheit im Netz. „Leider lässt mich der von der EU-Kommission vorgelegte Entwurf sowohl an der Wirksamkeit als auch an der Grundrechtskonformität zweifeln“, führte Wissing aus. An dieser Stelle nimmt er auch Bezug auf Star Trek und Captain Picard: „Mit dem ersten Glied ist die Kette geschmiedet. Wenn die erste Rede zensiert, der erste Gedanke verboten, die erste Freiheit verweigert wird, sind wir alle unwiderruflich gefesselt.“
WhatsApp-Chatgruppe muss privat bleiben
„Die vorgeschlagenen Maßnahmen drohen wesentliche Grundrechte und digitale Bürgerrechte, die wir uns in langem Ringen erkämpft haben, zu kompromittieren; nicht zuletzt das erst 2008 durch das Bundesverfassungsgericht geschaffene Grundrecht auf digitale Privatsphäre“, so Wissing. Die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland müssten weiterhin sicher sein, dass ihre private, verschlüsselte Kommunikation – auch im Netz – staatlich nicht massenhaft überwacht wird. „Die WhatsApp-Chatgruppe mit der Familie oder der Fußballgruppe oder die Gespräche unter Freunden müssen das bleiben, was sie sind: privat.“
Wissing hält die EU-Pläne auch nicht für geeignet, um das wachsende Problem von Missbrauchsdarstellung im Internet in den Griff zu bekommen. Stattdessen befürchtet er Ausweichbewegungen in das Darknet und eine Überforderung von Sicherheitsbehörden, die eine große Masse von Fehlermeldungen einer nicht ausgereiften Technologie bewältigen müssten. Mit der geplanten Verordnung werde eine Grenze überschritten, betonte er.
Im europäischen Ministerrat werde er „alle Argumente auffahren“, um das Vorhaben noch zu verhindern“, versprach er im Gespräch mit dem Netzjournalisten und re:publica-Mitbegründer Markus Beckedahl. „Wir dürfen nicht in der Angst leben, dass Algorithmen uns falsch verstehen“, warnt er. „Das macht etwas mit uns.“
Wir brauchen einen digitalen Aufbruch
„Ein freies Internet bietet auch die besten Voraussetzungen, um die Digitalisierung in Deutschland entschlossen voranzutreiben. Wir brauchen einen digitalen Aufbruch“, leitete er zu dem Thema über, das ihn bis zur Sommerpause sehr beschäftigen wird: Die Digitalstrategie der Bundesregierung. Er stelle sich ein digitales Deutschland vor, in dem die Zettelwirtschaft abgelöst wurde und die Menschen einfach und digital mit Behörden und Bürgerämtern kommunizieren – z.B. um einen neuen Reisepass zu beantragen. In diesem Deutschland sei auch die digitale Bildung selbstverständlich und Unternehmen würden mittels Digitalisierung nachhaltiger, der ÖPNV würde für viele Menschen zu einer echten Alternative.
Seiner Ansicht nach bedarf es nun einer neuen Art der Zusammenarbeit: „Wir werden in allen Ministerien Datenlabore einrichten. Das BMDV wird Taktgeber und Teamleader bei der Digitalstrategie sein: Wir fordern ambitionierte Leistungen und kontrollieren die Umsetzung der Vorhaben.“ Und auch hier bediente er sich wieder bei Star Trek: „Wir sind nicht mehr in der Abschlussklasse Starfleet Academy und versuchen uns in Rocket Science: Wir wollen endlich auf die Brücke des Raumschiffs Enterprise – also setzen wir die Erkenntnisse endlich um!“
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