Herkunft sollte nicht über den Lebensweg entscheiden

Im Interview mit dem Spiegel erläutert Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger ihre ambitionierten Vorhaben: Das BAföG soll elternunabhängiger, der Bildungsföderlismus reformiert und die Wissenschaft für Frauen attraktiver werden.

Bettina Stark-Watzinger
Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger setzt sich für mehr Chancengerechtigkeit ein: Damit nicht mehr die Herkunft über den Lebensweg entscheidet. © Laurence Chaperon

Eines der ersten Vorhaben von Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger ist ein Schub für das BAföG – und zwar schon bis zum Wintersemester: Alters- und Vermögensgrenzen sollen erhöht, die gestiegenen Lebenshaltungskosten realistischer abgebildet und das BAföG elternunabhängiger werden. Junge Menschen sollen ihren eigenen Weg gehen können, unabhängig von der Frage, ob ihre Eltern für ihre Ausbildung bezahlen können oder wollen. „Mit dem BAföG wollen wir wieder mehr Bildungsgerechtigkeit schaffen und noch mehr jungen Menschen Chancen eröffnen. Dafür muss es dringend attraktiver, moderner und flexibler werden.“ Es soll einen breiteren Anspruch auf Förderung geben. „Das sind wir den jungen Menschen schuldig, deren Zugang zu Bildung und Ausbildung gerade in Pandemiezeiten gestärkt werden muss“, meint Stark-Watzinger.

Während der Corona-Pandemie fühlten sich viele Studierende von der Politik vernachlässigt. „Das hat ganz offensichtliche Spuren hinterlassen: Die Nachfrage nach psychosozialer Beratung an den Hochschulen steigt“, mahnt die Bildungsministerin. Die Pandemie habe zwar alle Gruppen in dieser Gesellschaft nachhaltig geprägt. Junge Menschen hätten jedoch eine wichtige Lebensphase nur eingeschränkt erleben können: aus dem Elternhaus gehen, neue Leute kennenlernen, selbstständig werden. In der vergangenen Legislaturperiode habe die Regierung die Studierenden kaum berücksichtigt, finanzielle Hilfen seien zu spät gekommen. „Wichtig ist, dass wir jetzt daraus lernen. Ich richte deshalb einen Appell an die Länder, die Hochschulen offen zu halten“, erklärt Stark-Watzinger.

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Inhalt ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

Alles dafür tun, um Schulen offen zu halten

In einigen Bundesländern wurde die Präsenzpflicht an Schulen aufgehoben. Stark-Watzinger warnt: “Es gibt mehrere Studien, die zeigen, welche verheerenden Folgen die Schulschließungen für die Bildungsgerechtigkeit hatten. Kinder aus sozial benachteiligten Familien haben deutlich mehr unter der Pandemie gelitten als Kinder aus bessergestellten Haushalten. Daraus sollten wir lernen. Die Präsenzpflicht ist ein sehr hohes Gut.“ Deswegen müsse alles dafür getan werden, um die Schulen offen zu halten.

Digitalisierung der Schulen vorantreiben

Ein zentrales Anliegen von Stark-Watzinger sei, die Digitalisierung der Schulen voranzutreiben. In der Vergangenheit sei hier auch aufgrund bürokratischer Fesseln zu viel liegen geblieben. Der Digitalpakt stelle den Schulen zwar Geld für die Digitalisierung zur Verfügung, aber die Fördermilliarden wurden lange Zeit kaum abgerufen, auch weil das Antragsverfahren zu kompliziert war. Deswegen will die Bildungsministerin einen Digitalpakt 2.0 aufsetzen. „Denn die Digitalisierung ermöglicht ganz neue Zugänge zu Bildung. Schülerinnen und Schüler können dadurch individueller lernen, erwerben Digitalkompetenzen.“

Gemeinsam mit den Ländern will Stark-Watzinger die bürokratischen Hürden abbauen. „Dazu möchte ich mich mit ihnen an einen Tisch setzen. Zudem brauchen wir eine Zertifizierung von Lern-Apps und -plattformen hinsichtlich des Datenschutzes. Das bietet Lehrkräften Sicherheit, wenn sie sich fragen, welche Produkte sie verwenden können.“

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Inhalt ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

Kooperationsgebot zwischen Bund und Ländern

Stark-Watzinger will für eine bessere Zusammenarbeit von Bund und Ländern sorgen. „Die Aufgaben zwischen Bund, Ländern und Kommunen müssen besser verteilt und aufeinander abgestimmt werden. Niemand versteht doch mehr, dass es einen Unterschied macht, in welchem Bundesland Kinder zur Schule gehen. Umzüge werden dadurch erschwert, Abschlüsse sind nicht wirklich vergleichbar. Wir sollten auf die hören, die es betrifft: auf die Familien.“

Es gehe nicht darum, den Ländern etwas wegzunehmen, sondern darum, durch kluge Zusammenarbeit mehr zu erreichen. „Wir gehen derzeit oft Umwege, die viel Aufwand bedeuten und Effizienz kosten. Der Bund investiert eine Milliarde Euro in ein Aufholprogramm, damit Schülerinnen und Schüler ihre Lernlücken aus der Pandemie schließen können. Weil wir das Geld aber nicht direkt den Schulen geben dürfen, bekommen es die Länder über Umsatzsteuerpunkte. Das ist unnötig kompliziert“, erklärt die Bundesbildungsministerin. Ziel sei, die Aufgaben besser zu verteilen und abzustimmen – und zwar durch ein Kooperationsgebot, kein Verbot.

„Ich will, dass die einzelne Schule selbstständiger wird: ein eigenes Budget, weniger Bürokratie, mehr Autonomie. Sie wissen selbst am besten, was die Kinder und Jugendlichen vor Ort brauchen“, ist Stark-Watzinger überzeugt. Die Länder würden sich um Lehrpläne und Lehrerbildung kümmern und der Bund unterstütze bei den großen Themen, die alle betreffen wie beispielsweise die Digitalisierung oder Qualität der Bildung. 

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Inhalt ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

Wissenschaft soll für Frauen attraktiver werden

Auch für den Bereich Wissenschaft und Forschung hat Bettina Stark-Watzinger Großes vor: Derzeit sei die Wissenschaft in Deutschland noch stark männlich geprägt. „Es gibt eine Abbruchkante nach der Promotion. Frauen sind bei den Hochschulabschlüssen noch in der Mehrheit, danach werden es immer weniger“, erklärt die Bildungsministerin. Das habe etwas mit Planbarkeit zu tun. Die befristeten Verträge, mit denen viele Forscherinnen und Forscher arbeiten, seien für die Lebensplanung ein Problem – vor allem wenn man Kinder bekommen möchte. „Und es hängt mit veralteten Rollenbildern zusammen“, gibt Stark-Watzinger zu bedenken.

Sie ist überzeugt: Eine Frauenquote würde das Problem nicht lösen. “Mit der Quote kleben wir nur ein Pflaster drauf. Wir müssen uns tiefer mit dem Problem beschäftigen und den Hochschulen und Forschungszentren klarmachen: Gleichstellung und Diversität sind eure Aufgabe, eure Verantwortung. Kümmert euch darum, dass die Wissenschaft für Frauen attraktiver und diverser wird.“

Wissenschaft darf nicht ausbeuterisch sein

In den vergangenen Monaten haben junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den sozialen Medien unter dem Stichwort #IchbinHanna unter anderem gegen die Kettenbefristungen in Forschung und Lehre protestiert. Stark-Watzinger stellt klar: Daueraufgaben sollen auch dauerhaft finanziert werden. Und Verträge, die über Projekte finanziert werden, sollen an die Projektlaufzeit gekoppelt und nicht gestückelt werden. Deswegen hat die Ampel-Regierung im Koalitionsvertrag festgehalten, „dass wir das Wissenschaftszeitvertragsgesetz anfassen, das die Befristungen regelt.“