Presseschau: Den Freien Demokraten gebührt Dank
Es ist ein medialer Furor über die FDP hereingebrochen, seit sie die Sondierungsgespräche für eine Jamaika-Koalition beendete. Ein Überblick.
Handelsblatt: Umfallen für Deutschland
Steingart schreibt: „ ‚Es hat sich gezeigt‘, sagte der FDP-Chef in der Nacht von Sonntag auf Montag, ‚dass die vier Gesprächspartner keine gemeinsame Vorstellung von der Modernisierung unseres Landes entwickeln konnten‘. Damit sprach Lindner eine Wahrheit aus, die jeder seit Tagen sehen und spüren konnte. Deutschland erlebte mit Lindners Erklärung das, was der Philosoph Peter Sloterdijk in ‚Die schrecklichen Kinder der Neuzeit‘ so beschrieben hatte: ‚Die Übersteigerung des Unbehagens durch seine Erklärung.‘ Dabei hatte der 38-Jährige die beteiligten Unterhändler nicht kritisiert, nur ertappt.“
WirtschaftsWoche: Fünf Gründe, warum Lindner tat, was er tat
Für die WirtschaftsWoche schreibt Marc Etzold: „In der öffentlichen Wahrnehmung gilt FDP-Chef Christian Lindner als verantwortlich für die derzeitige Krise. Aber er hatte mindestens fünf gute Gründe, die Sondierungen mit CDU,CSU und Grünen zu beenden.“ Dazu gehörten aus seiner Sicht das schlechte Verhandlungsergebnis, die Tatsache, dass bereits erzielte Kompromisse ständig in Frage gestellt worden seien, die Bevorzugung der Grünen durch die Kanzlerin, die insgesamt schlechte Stimmung in den Gesprächen und der Erneuerungsprozess der FDP.
FAZ: Respekt für die FDP
Heike Göbel schreibt in Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Die FDP hätte in einer Merkel-Regierung über kurz oder lang nackt dagestanden. Die Wirtschaft sollte Schwarz-Gelb-Grün also nicht nachweinen. Deutschland bleibt eine Regierung voller Widersprüche erspart.“ Göbel führt an: „Nur eine Minderheit schließt sich der Lesart der Liberalen an, die beteuern, Union und Grüne hätten sich auf wichtigen Feldern jeder wirtschaftspolitischen Kurskorrektur verweigert. Doch als Beleg für ein letztlich unannehmbares Verhandlungspaket weist FDP-Chef Christian Lindner auf vier Punkte: Soli-Abbau nur zur Hälfte, keine Flexibilität am Arbeitsmarkt, keine EEG-Reform, keine Haltelinien beim Euro. Wenn dies das letzte Angebot war, gebührt den Freien Demokraten Dank, dass sie dem schwarz-gelb-grünen Experiment nicht an die Macht verhelfen.“
Ulf Poschardt: Lindners Nein, Steinmeiers Aufruf. Die Chance nach dem Scheitern
Ulf Poschardt schreibt in der Welt: „Die FDP hat die Sondierung beendet, weil sie wenig Lust hatte, als gelber Tupfer auf einem schwarz-grünen Koalitionsvertrag missbraucht zu werden. Die Partei hat aus ihrer Geschichte gelernt und muss nun akzeptieren, dass sie unbeliebt bleibt, egal, was sie tut. Dieselben Liberalenhasser, die der Partei stets Machtlust, Postenversessenheit und Charakterarmut beschieden, empören sich nun, dass die Partei tut, was sie sagt, und ihrem Programm folgt. Die Partei steht geschlossen hinter dieser neuen unbestechlichen Konsequenz. Sie ist eine neue Partei.“
NZZ: Die FDP ist der Prügelknabe
Die Neue Zürcher Zeitung schreibt: „Die Erzählung der kompromissbereiten Grünen und der verantwortungslosen FDP verfing in den Medien gut. Dass sich eine Partei wie die Grünen, die in der Umwelt- und Migrationspolitik zum Teil extreme Positionen vertritt, in einer Mitte-Regierung natürlich bewegen musste, ist klar. Ob sie sich bis zu den Schmerzgrenzen bewegt hat? Möglicherweise in ihrer eigenen Wahrnehmung. Im umstrittenen Familiennachzug für Asylsuchende mit subsidiärem Schutz bewegte sich die Partei jedenfalls nicht. Was den Abbau von Kohleenergie anbelangte, grenzten ihre Vorstellungen offenbar an Verantwortungslosigkeit. Für Unruhe und Schuldzuweisungen in den Medien sorgte die letzten Wochen nicht selten ein Grüner: Jürgen Trittin.“
Welt: Deshalb stieg die FDP aus Jamaika aus
Torsten Jungholt schreibt in der Welt: „Natürlich kam der Abbruch der Verhandlungen durch die FDP nicht spontan… Es sind drei Säulen, aus denen sich die Entscheidung speist, die Gespräche zu beenden. Da waren erstens die inhaltlichen Differenzen, die im Laufe der Sondierungen nicht weniger, sondern mehr geworden waren. Am Sonntagabend wies das gemeinsame Sondierungspapier nach Lesart der Freien Demokraten noch immer rund 200 Passagen mit eckigen Klammern auf, also Themen, in denen kein Konsens erreicht war. Angesichts dieses Zwischenstandes gab es zweitens die Überlegung: Wenn wir uns schon bei den bekannten Herausforderungen so schwertun, gemeinsame Lösungsansätze zu finden, was bedeutet das für während einer Legislaturperiode neu auftretende Krisenlagen? Nach Überzeugung der FDP wären die, und das ist die dritte Säule der Abbruchentscheidung, nicht auf Grundlage eines belastbaren Vertrauensverhältnisses zu lösen gewesen, sondern hätten wiederum zu unkontrollierbaren Streitereien geführt. Befürchtet wurde eine Koalition des Misstrauens, die das Land nicht voranbringen, sondern lähmen würde.“
n-tv: Christian Lindner hat die Kanzlerin entlarvt
Wolfram Weimer schreibt auf n-tv.de: „Der FDP-Vorsitzende hatte am Sonntag die Notbremse beim Jamaika-Projekt gezogen, obwohl ihm der Teppich des Vizekanzlers schon ausgerollt und die Finanzministerlimousine nurmehr auf ihn zu warten schien. Doch Lindner ist der Versuchung der Macht nicht erlegen. Er steht vielmehr zu Programm und Prinzipien. Und er geht dafür ein hohes Risiko ein. Zum einen wird er nun von Grünen und Merkel-Getreuen wahlweise als Verantwortungsloser, Verzagter oder Vaterlandsverräter gebrandmarkt. Zum anderen muss er Sorge haben, dass die FDP bei etwaigen Neuwahlen für ihre Notbremse abgestraft wird. Gewonnen hat er aber ein wertvolleres Gut: Glaubwürdigkeit.“
stern. de: Gut, dass aus den letzten vier Wochen keine vier Jahre werden!
Andreas Petzold schreibt auf stern.de: „Aber dieses Blame Game können wir überspringen, der Wähler war längst genervt vom Eiertanz um Klima, Familiennachzug und Solidaritätszuschlag. Wenn vier Parteien in dem Modus „Du kannst mit Deiner Meinung kommen, aber mit meiner wieder gehen“ sondieren, dann ist es besser, wenn aus den vergangenen vier Wochen keine vier Jahre werden. Selbst wenn die Parteichefs alle eckigen Klammern aus dem Sondierungspapier raus verhandelt hätten, wären sie doch im Hinterkopf geblieben.“
Stuttgarter Nachrichten: Wir müssen der FDP dankbar sein
Christian Gottschalk kommentiert in den Stuttgarter Nachrichten: „Das unsägliche Jamaika-Theater hat also ein Ende gefunden, dieses langwierige Gerangel, das nicht viel mehr produziert hat als inhaltsfreie Worthülsen, die aber im Minutentakt. Nein, es ist nicht der Untergang des Abendlandes, der uns nun bevor steht. Und auch wenn wir in den vergangenen vier Wochen immer gehört haben, dass es die Pflicht demokratischer Parteien sei, sich zusammen zu raufen, dass es eine Katastrophe wäre, wenn das Karibik-Bündnis nicht zustande käme, richtig war das nie. Im Gegenteil. Wir müssen der FDP dankbar sein.“
Buhmann Lindner? Meedia über das mediale Blame-Game
Bei Meedia heißt es: „Für die Grünen und CDU/CSU ist die Flucht ins Blame-Game der einfache, der offensichtliche Weg. Lindner als Buhmann, der die Verantwortung scheut und sich davonmacht, obwohl das Ergebnis doch angeblich ‚zum Greifen nahe‘ ist. Die Frage ist nur, ob ihnen das jemand abkauft. Ob das nicht eine viel größere Inszenierung ist, als jene, die man nun teilweise der FDP vorwirft. War das Bild, das die Jamaika-Sondierungen abgegeben haben wirklich das, dass man ‚zum Greifen nahe‘ an einer Lösung ist? Oder nicht doch eher, dass nach zähem Ringen bestenfalls teure Formel-Kompromisse stehen, wie es Lindner ausmalte? Falls es stimmen sollte, dass man ganz, ganz knapp vor einer Einigung war und der nassforsche Herr Lindner plötzlich und unerwartet hingeschmissen hat, dann sollten CDU/CSU und Grüne anfangen, diese Lesart besser und glaubhafter zu kommunizieren. Sonst profitiert bei einer möglichen Neuwahl möglicherweise vor allem die FDP. Das Blame-Game zu spielen ist naheliegend und relativ leicht. Unter Umständen steht man am Ende aber selbst blamiert da.“