WISSING-Interview: Angela Merkel und die CDU haben das bürgerliche Lager in Deutschland aufgegeben

Der FDP-Generalsekretär Dr. Volker Wissing gab der „Neuen Zürcher Zeitung“ (Online) folgendes Interview. Die Fragen stellte Marc Felix Serrao:

Frage: Der CSU-Generalsekretär Markus Blume hat die FDP jüngst als «Freie Radikale» bezeichnet, und der Parteichef Markus Söder hat die Liberalen in die Nähe der AfD gerückt. Ihre Partei poltert zurück, Sie als Generalsekretär vorneweg. Was ist da los, Herr Wissing?

Wissing: Die CSU hat sich von der FDP unter Druck gesetzt gefühlt. Herr Söder arbeitet intensiv an einer möglichen Kanzlerschaft und sieht seine Ambitionen durch die Kritik der Freien Demokraten am Management der Corona-Pandemie gefährdet. Die CSU hat attackiert. Wir haben uns verteidigt und werden das auch künftig tun. Ich bin Vertreter eines wehrhaften Liberalismus.

Frage: Wie es zu dieser Entfremdung gekommen?

Wissing: Die Union von heute definiert sich weniger über inhaltliche Positionen als vielmehr darüber, dass sie die Kanzlerin oder den Kanzler stellt. Es geht ihr weniger um politische Gestaltung, es geht um eine Kontinuität der Macht. Das zeigt sich zum Beispiel daran, wie zielstrebig CDU und CSU Positionen der SPD übernommen haben. Vor allem die CDU hat sich damit weitere Wählergruppen erschlossen und die SPD an den Rand gedrängt. Jetzt geht es darum, dies fortzusetzen, deshalb strebt sie eine Koalition mit den Grünen an, um deren Wählergruppen zu erreichen und nach Möglichkeit zu übernehmen. Angela Merkel hat aus der CDU eine beeindruckende Machtmaschine gemacht, allerdings ist der Partei dabei der innere Kompass abhandengekommen. Klassisch konservative Wählerinnen und Wähler hat die Neuausrichtung der CDU heimatlos gemacht.

Frage: Und die CSU?

Wissing: Die CSU folgt mit etwas Zeitverzug. Erst wollten die Herren Seehofer und Söder vor allem die traditionell-konservativen Wählerinnen und Wähler zurückgewinnen. Das war die Zeit, als die CSU in der Flüchtlingskrise Grenzschliessungen oder in Bayern einen Kruzifix-Erlass gefordert hat. Herr Söder von heute will an Herrn Söder von damals am liebsten nicht mehr erinnert werden.

Frage: Selbst wenn das stimmen sollte: Was hätte es mit der FDP zu tun?

Wissing: Die Freien Demokraten sind für die Union eine permanente Gefahr, weil wir als bürgerliche Partei der Mitte für viele Wähler der Union eine Alternative sind. CDU und CSU haben Anhänger, etwa Mittelständler und Unternehmer, die sich eine bürgerliche und marktwirtschaftlich ausgerichtete Partei wünschen, und die wollen, dass diese Positionen politisch ernsthaft vertreten werden. Für die Union sind wir Störenfriede, weil wir ihre Wähler ständig an die Beliebigkeit der beiden Parteien erinnern. Um der eigenen Basis gegenüber rechtfertigen zu können, dass sie sich statt mit uns lieber mit den Grünen verbündet, versucht die Union, uns zu diffamieren. Dieses Manöver ist durchschaubar. Es ist nicht inhaltlich begründet, sondern der eigenen Nervosität geschuldet.

Frage: Sie sagten, die Entfremdung habe bei der CDU begonnen.

Wissing: Aus Sicht der CDU ist eine Koalition mit den Grünen das gesellschaftspolitisch spannendere Projekt. Angela Merkel verbindet damit die Erschliessung weiterer Wählergruppen, die bisher für die Union eher nicht erreichbar waren. Die Freien Demokraten spielen in diesen machttaktischen Überlegungen keine Rolle. Das ist aus unserer Sicht auch kein Problem; wir definieren uns nicht über die Zuneigung der Union, sondern über unsere Inhalte. Es war für Angela Merkel und die CDU eine böse Überraschung bei den Jamaica-Verhandlungen, als sie feststellen mussten, dass die Freien Demokraten auch Nein sagen können.

Frage: Die FDP sagt vor allem gerne «Jein». Nehmen Sie die aktuellen Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Die hat Ihre Partei scharf kritisiert, etwa die Zwangsschliessung der Gastronomie. Zugleich trägt Ihre Partei diese Massnahmen in drei Bundesländern als Regierungspartner mit. Ist das nicht genau das, was Sie der Union vorwerfen: Beliebigkeit?

Wissing: Wir als FDP haben uns für das ganze Land einen anderen Kurs gewünscht, und ich nehme mir auch in meinem Bundesland die Freiheit, die Verfassungskonformität etlicher Massnahmen anzuzweifeln. Aber als stellvertretender Ministerpräsident habe ich nicht die Aufgabe, Oppositionspolitik gegen den Bund zu machen. Ich habe dort einen Gestaltungsauftrag für das Land. Wir machen auf Bundesebene konstruktive Vorschläge, und auf Landesebene arbeiten wir konstruktiv in den jeweiligen Regierungsbündnissen. Die FDP ist eine konstruktive, keine destruktive Partei.

Frage: Wenn es stimmen würde, dass die FDP aus Sicht der CDU ein Störfaktor ist, dann hätte die Partei schon 2017 im Wahlkampf gegen die FDP Stimmung machen können. Das hat sie nicht getan.

Wissing: Ein Wahlkampf gegen die FDP ist für die CDU schwierig, weil sie dann nicht nur Wahlkampf gegen eigene Themen, sondern auch gegen die Überzeugungen vieler Mitglieder führen müsste. Das belegen die hohen Zustimmungswerte für Friedrich Merz. Diese basieren auf der Sehnsucht vieler Mitglieder nach einem marktwirtschaftlicheren Profil der Partei.

Frage: Das war und ist nicht die Sehnsucht der Kanzlerin.

Wissing: Frau Merkel schätzt die grossen Mehrheiten einer grossen Koalition und die damit verbundene Dominanz der Regierung gegenüber dem Parlament. Als sie 2005 zum ersten Mal mit der SPD regiert hat, fand sie das super. Öffentlich hat sie die Koalition als reine Notwendigkeit verkauft, und viele Bürger haben ihr geglaubt. Nach vier Jahren waren die Deutschen diese Regierung dann leid und haben sie gezwungen, 2009 eine schwarz-gelbe Regierung zu bilden. Den eigenen Mitgliedern und der Öffentlichkeit hat sie das zunächst als Wunschkoalition verkauft, gleichzeitig waren die Differenzen zwischen Parteien und Personen von Anfang an offensichtlich. Und diese Konflikte dienten der Kanzlerin dann als Legitimation für eine Neuauflage ihrer Koalition mit der SPD.

Frage: Die FDP ist 2013 aus dem Bundestag geflogen. War das etwa die Schuld von Angela Merkel und ihren Vertrauten?

Wissing: Es wäre billig, die Schuld für das Scheitern der FDP 2013 bei anderen zu suchen, und das tun wir auch nicht. Die Freien Demokraten haben sich deshalb unter Christian Lindner einem schonungslosen Aufarbeitungsprozess unterzogen, der seinesgleichen sucht in der deutschen Parteienlandschaft.

Frage: Trotzdem sind Sie auf die CDU nicht gut zu sprechen.

Wissing: Die CDU ist eine Partei, die sich vor allem über Macht definiert. Angela Merkel hat sie zu einem Politikanbieter gemacht, dessen Angebot sich ganz eng am jeweiligen Zeitgeist orientiert. Weil es ihr aus machttaktischen Überlegungen ratsam schien, hat sie reihenweise konservative und marktwirtschaftliche Positionen preisgegeben und so indirekt leider auch die AfD gefördert. Zahlreiche Mitglieder der AfD waren mal Mitglieder der CDU. Unter Angela Merkel wurde die CDU zu einem Poll-Follower degradiert.

Frage: Einem was?

Wissing: Einer Partei, die nur noch auf Meinungsumfragen reagiert, statt eine eigene politische Linie zu verfolgen. Erst die Laufzeitverlängerung, dann der überhastete Ausstieg aus der Kernenergie, erst die Flüchtlingskanzlerin, dann die vermeintliche Abschiebekanzlerin: Wer versucht, in der Politik von Angela Merkel eine wertebasierte Konstante zu finden, wird sich sehr schwertun.

Frage: Unabhängig davon, wie man Merkels Bilanz bewertet, ihre Flexibilität hat der CDU bei Wahlen bisher nicht geschadet.

Wissing: Ein wesentlicher Aspekt unserer Demokratie ist, dass Parteien mit unterschiedlichen Positionen im Wettbewerb stehen. Würden sich FDP, SPD oder Grüne die Beliebigkeit der Union zu eigen machen, würden die Bürger nicht mehr über politische Inhalte entscheiden, sondern nur noch das Team zusammenstellen, das Deutschland eine Legislaturperiode lang verwaltet. Für eine lebendige Demokratie ist das zu wenig.

Frage: Was heisst das für das bürgerliche Lager?

Wissing: Angela Merkel und die CDU haben das bürgerliche Lager in Deutschland aufgegeben. Eine traditionell bürgerlich-liberale Politik wird nur noch von den Freien Demokraten vertreten. Das ist auch der Grund, warum wir der Angstgegner der Union sind. Wir bieten deren Mitgliedern eine marktwirtschaftliche Alternative.

Frage: Das klingt so, als wäre die Union im kommenden Bundestagswahlkampf Ihr Hauptgegner.

Wissing: Wir haben klarere Positionen in allen marktwirtschaftlichen Fragen. Die CDU ist immer dann dafür, die Steuern zu senken, wenn die Ablehnung durch ihren Koalitionspartner gesichert ist. Ansonsten wehrt sie sich mit Händen und Füssen. 2009 in den Koalitionsverhandlungen zwischen FDP und CDU ging deren Bereitschaft, die Bürger zu entlasten, gegen Null. 2013 hat die CDU behauptet, sie würde gerne eine Steuerreform umsetzen, aber die SPD sperre sich. Und 2017, als die FDP wieder mit am Verhandlungstisch sass und eine Entlastung forderte, wurde diese abermals blockiert. Wir hätten den Soli abschaffen und Jamaica haben können. Die Grünen hätten mitgemacht. Wir hatten schon ein Papier vorbereitet, aber Peter Altmaier hat sich gesperrt. Später, als Jamaica geplatzt war und die Union wieder mit der SPD koalieren konnte, hat er dann öffentlich behauptet, er würde ja gerne den Soli abschaffen, aber die SPD sei dagegen.

Frage: Was erwarten Sie von der CDU nach Angela Merkel?

Wissing: Der Kurs von Frau Merkel wird seit Jahren in der Breite der Partei unterstützt. Die schon erwähnte hohe Zustimmung für Friedrich Merz deutet aber daraufhin, dass viele Mitglieder die Zeit der Beliebigkeit leid sind und sich wieder ein erkennbares konservatives Profil zurückwünschen. Mit der AfD hat die CDU Konkurrenz von rechts bekommen, mit der FDP hat sie Konkurrenz aus der Mitte. Frau Merkels Partei hat ihre Stammwähler preisgegeben. Ob es ihr gelungen ist, die neuen Wähler aus dem Lager der SPD dauerhaft zu binden, muss sich noch zeigen.

Frage: Sie haben Friedrich Merz jetzt zweimal erwähnt. Wünscht sich die FDP nicht eigentlich Armin Laschet als nächsten CDU-Parteichef, weil er Ihre Partei dem Vernehmen nach in der Regierung von Nordrhein-Westfalen fair behandelt?

Wissing: Die FDP definiert sich nicht über ihre Koalitionspartner, sondern über ihre eigenen Positionen und Werte. Für uns ist es daher nicht von zentraler Bedeutung, wer die CDU führt. Es ist für uns nur dann relevant, wenn es darum geht, Schnittmengen zu finden. Die FDP braucht keinen Friedrich Merz, um marktwirtschaftliche Positionen zu vertreten. Abgesehen davon war auch er sich nicht zu schade, sich mit einem grünen Sakko als Verfechter von Schwarz-Grün zu inszenieren.

Frage: Das ist Polemik.

Wissing: Friedrich Merz vertritt in vielen Wirtschaftsfragen vernünftige Positionen. Das war 2005 bei Angela Merkel aber auch der Fall. Die Angela Merkel von 2005 war dem Friedrich Merz von heute nicht unähnlich.

Frage: Wenn all das stimmen würde, was sie über die Unionsparteien sagen: Warum sind die bürgerlichen Wähler dann nicht schon in Scharen zur FDP übergelaufen?

Wissing: Wir haben bei der letzten Bundestagswahl mehr als zehn Prozent der Stimmen erhalten, und das wird uns wieder gelingen. Die bürgerlichen Wähler merken, dass der Union der politische Kompass abhandengekommen ist. Herr Linnemann (Carsten Linnemann, der Chef der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung von CDU und CSU, Anm. d. Red.) vertritt vieles, was die FDP auch vertritt. Trotzdem trägt auch er am Ende eine Politik mit, die in vielen Punkten im Widerspruch zu seinen Forderungen steht.

Frage: Die Mittelstandsvereinigung spielt keine Rolle mehr?

Wissing: Wir schätzen sie als kompetenten und seriösen Gesprächspartner, und wir können sehr gut nachvollziehen, wie schwierig es heute ist, in der Union eine Politik der Sozialen Marktwirtschaft zu machen. Als die Union das Wirtschaftsministerium für sich reklamierte, träumten viele CDU-Mitglieder von einem zweiten Ludwig Erhard. Sie haben dagegen Peter Altmaier bekommen.

Frage: Wünschen Sie sich, dass jemand wie Herrn Linnemann . . .

Wissing: … in die FDP wechselt? Das muss er entscheiden. Die Schnittmengen im Bereich der Wirtschaftspolitik sind auf jeden Fall vorhanden. Andererseits ist die FDP eine liberale Partei. Das kann für Konservative gerade in der Gesellschaftspolitik und bei den bürgerlichen Freiheitsrechten auch anstrengend sein.

Frage: Sie sind in Rheinland-Pfalz stellvertretender Ministerpräsident einer sogenannten Ampel-Regierung aus SPD, Grünen und FDP. Wäre das Ihre Wunschkoalition fürs ganze Land?

Wissing: Mit der SPD und den Grünen können Sie Politik machen, weil die Parteien sich jeweils den Raum geben, eigene Werte und Stärken einzubringen. So kann aus einer Koalition ein echter gesellschaftlicher Mehrwert für das Land erwachsen. Die Grünen kümmern sich um ihre Klientel, die SPD sorgt für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, und die FDP engagiert sich für Wirtschaft, Arbeitsplätze und die Bürgerrechte. Damit so etwas gelingt, muss man aber bereit sein, eine Koalition als Team mit Gestaltungsauftrag zu begreifen.

Frage: Die Grünen gelten eigentlich als Gegenpol der FDP. Bei Ihnen klingt das jetzt gar nicht mehr so.

Wissing: Die Grünen haben einen anderen politischen Ausgangspunkt. Sie sind eine sehr normative Partei. Ich habe grossen Respekt vor ihrem moralischen Anspruch. Allerdings schreckt mich, wie sie aus einer gefühlten moralischen Überlegenheit der eigenen Positionen das Recht ableiten, andere Anliegen, Interessen und Befindlichkeiten oftmals geringschätzig abzutun. Gesellschaftspolitisch geht es Grünen wie Konservativen nicht darum, die eigenen Werte und Vorstellungen selbst leben zu können. Sie wollen andere dazu zwingen, diese zu übernehmen. Auch unter diesem Aspekt ist Schwarz-Grün nur konsequent. Als Freier Demokrat sträuben sich mir bei diesem autoritär-missionarischen Politikansatz die Haare.

Frage: Haben Sie ein Beispiel?

Wissing: Nehmen Sie die Forderung nach einem Verbot des Verbrennungsmotors oder die energiepolitischen Ausstiegsdebatten. Mir wäre es lieber, wir würden Lösungen und nicht Verbote in den Vordergrund stellen. Wenn wir ein praxistaugliches, klimaneutrales Mobilitätskonzept haben, wird der Verbrennungsmotor von selbst verschwinden.

Frage: Gibt es in der FDP Experten für das Thema Umweltschutz?

Wissing: Ich nehme das Thema ernst. Wir haben ausserdem viele junge Leute, die da glaubhaft sind. Lukas Köhler und Judith Skudelny, zum Beispiel. Auch die Jungen Liberalen wären für eine öko-soziale Marktwirtschaft zu haben. Umwelt- und Klimaschutz sind Freiheitsthemen und damit klassische Themen der FDP. Wenn natürliche Ressourcen verbraucht werden, schwinden damit auch die Handlungsmöglichkeiten, die Optionen künftiger Generationen. Das sind ganz reale Freiheitsverluste.

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