RÜLKE/HÜCK-Doppelinterview: Was nützt es der Gastronomie, wenn Leute in Kurzarbeit gehen?

FDP-Präsidiumsmitglied und Sprecher der FDP-Fraktionsvorsitzendenkonferenz Hans-Ulrich Rülke und der Ex-Porsche-Betriebsratschef und SPD-Fraktionssprecher im Gemeinderat der Stadt Pforzheim Uwe Hück gaben der „Rhein-Neckar-Zeitung“ (Mittwoch-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte Sören S. Sgries:

Frage: Herr Rülke, Herr Hück, was ist Ihr Eindruck: Wer leidet derzeit besonders unter den Corona-Einschränkungen: Die Unternehmer, die um die Zukunft ihrer Betriebe fürchten? Oder doch erst einmal die „kleinen Rädchen“, die Arbeitnehmer?

Rülke: Natürlich beide. Und zwar in unterschiedlicher Härte. Es gibt in der Wirtschaft welche, die profitieren, zum Beispiel der Online-Handel. Und es gibt viele, die massiv leiden. Zum Beispiel Gastronomie und Tourismus-Gewerbe. Insgesamt gibt es deutlich mehr Verlierer. Dort, wo die Unternehmen keine Gewinne mehr machen, dort wo sie in Kurzarbeit gehen, leiden auch die Beschäftigten. Deswegen ist es höchste Zeit, jetzt, wo die Begründung für den Shutdown nicht mehr gegeben ist – nämlich dass wir verhindern wollen, dass unser Gesundheitswesen an seine Grenzen kommt – die Wirtschaft wieder hochzufahren.

Frage: Herr Hück, Arbeitgeber oder Arbeitnehmer: Wer leidet gerade besonders.

Hück: Das gesamte Land leidet. Dabei ist das Schlimmste für die Unternehmen und die Arbeitnehmer, dass sie nicht planen können. Wir brauchen eine Strategie, die die Industrie motiviert und Arbeitsplätze erhält. Es werden Arbeitsplätze verloren gehen. Aber nicht alleine wegen Corona, sondern weil sich Deutschland schlecht aufgestellt hat in der Digitalisierung und schlecht aufgestellt hat in der Antriebstechnik. Darum müssen wir schnell handeln.

Frage: Sie kritisieren jetzt, der „Lockdown“ sei zu scharf. Es wurden aber gleichzeitig massive Hilfsmaßnahmen – beispielsweise das Kurzarbeiter-Programm – beschlossen.

Hück: Kurzarbeit ist gut, um die Menschen erst einmal in Arbeit zu halten. Wir dürfen aber nicht immer nur auf die Dax-Unternehmen schauen. Was nützt es der Gastronomie, wenn Leute in Kurzarbeit gehen? Ein Autobauer kann die Produktion nachholen. Aber ein Essen im Restaurant, das in den letzten zwei Wochen nicht gegessen wurde, lässt sich nicht nachholen. Deshalb müssen wir dringend schauen, dass Öffnungen wieder möglich sind – mit entsprechenden Hygienevorgaben.

Frage: Teilen Sie diese Einschätzung, Herr Rülke? Wurde zunächst richtig gehandelt?

Rülke: Zu Beginn dieser Krise war nicht sicher, dass wir nicht solche Zustände bekommen würden wie in Italien. Das Land kontrolliert runterzufahren, war richtig. Im Landtag haben wir diese Politik mitgetragen. Wir haben auch die Schuldenbremse gelockert, um Milliarden für Soforthilfen zur Verfügung zu stellen. Jetzt muss aber klar sein: Keinen Tag länger als unbedingt notwendig dürfen wir die Wirtschaft belasten. Insbesondere Winfried Kretschmann hat den Zug verschlafen. Er hat sich immer an Markus Söder angelehnt. Und dann musste er plötzlich feststellen: Söder öffnet die Schulen vor Baden-Württemberg. Söder hat ein Öffnungskonzept für die Gastronomie. Ein bisschen mehr Reaktionsschnelligkeit hätte wahrscheinlich einige Schäden in Baden-Württemberg verhindern können.

Hück: Mir fehlt da auch die Stimmigkeit. Wenn Unternehmen die Produktion wieder hochfahren dürfen, also Mitarbeiter an einem Band ganz eng zusammenarbeiten können, aber die Gastronomie bleibt geschlossen, dann werden Sie die Menschen davon nicht überzeugen können, dass das Konzept gut ist.

Frage: Es sind Hilfsmaßnahmen in einer Größenordnung beschlossen worden, die vorher undenkbar schienen. Die „Schwarze Null“ ist kein Thema mehr. Wünscht man sich als Sozialdemokrat nicht, dass das schon früher möglich gewesen wäre?

Hück: Ich war schon immer gegen die Schwarze Null. Die Ausstattung unseres Gesundheitswesens ist unzureichend, unser Schulwesen ist katastrophal, das sieht man ja. Wir wollten Schulen öffnen, mussten aber feststellen, dass zum Beispiel die Toiletten nicht in Ordnung sind. Bevor wir einer Schwarzen Null nachjagen, sollten wir sehen, dass wir unseren Kindern eine gute Zukunft ermöglichen.

Frage: Herr Rülke, bei Ihnen müsste eigentlich massives Unbehagen vorherrschen angesichts der massiven Eingriffe des Staates in die freie Wirtschaft.

Rülke: Es ist für eine vorübergehende Zeit eine Notwendigkeit. Wenn der Staat Unternehmen schließt, dann muss er Schadensersatz leisten. Deshalb ist es notwendig gewesen, finanzielle Mittel bereitzustellen, um die Folgen der Krise für die Wirtschaft abzumildern. Klar ist aber auch, dass der Staat nur solange sich am Wirtschaftsgeschehen beteiligen sollte, wie es absolut notwendig ist.

Frage: Insbesondere um die Lufthansa wird öffentlich gerungen.

Rülke: Die Lufthansa wäre wahrscheinlich nicht überlebensfähig ohne staatliches Engagement. Deswegen ist es richtig, dass für einen begrenzten Zeitraum der Steuerzahler zum Teilhaber wird — und dafür sorgt, dass dieses Unternehmen nicht stirbt. Aber wenn das Unternehmen wieder handlungsfähig ist, wenn der Vogel wieder aus eigener Kraft fliegt, muss der Staat sich zurückziehen.

Frage: Welche Bedingungen darf der Staat stellen?

Rülke: Wenn der Steuerzahler ein Unternehmen am Leben hält, gibt es keine Manager-Boni. Es werden keine Dividenden ausgeschüttet. Das kann man dem Steuerzahler nicht vermitteln. Danach ist alles wieder frei – aber nicht in der Krise.

Hück: Das ist doch selbstverständlich. Wenn ein Unternehmen Fremdkapital bekommt, dann müssen die kontrollieren können, die zahlen. Cash ist King. Nur bin ich sehr vorsichtig: Nicht jeder Politiker sollte in der Wirtschaft mitreden dürfen. Gewählte Organe haben immer den Drang, eine Wahlkampagne zu machen. Ich bin für Solidarität, nicht für Sozialismus.

Frage: Bei der Lufthansa entstand zwischendurch der Eindruck, dass die Konzernspitze sich lieber über eine Insolvenz „entschulden“ möchte anstatt staatlichen Einfluss zuzulassen…

Rülke: Wenn die Unternehmen alleine zurechtkämen, müssten sie ja gar nicht erst in die Insolvenz gehen. Es gibt die Tendenz, dass einige sich über die Krise entschulden wollen. Das darf aber keine Lösung sein, da es ja auf Kosten der Gläubiger geschieht. So etwas zerstört Vertrauen. Die begrenzte, auch zeitliche begrenzte, staatliche Beteiligung ist da unbedingt vorzuziehen.

Hück: Ich finde es bemerkenswert, dass man bei großen Unternehmen wie der Lufthansa bereit ist, da viele Millionen reinzustecken. Wir brauchen aber unbedingt eine Strategie, wie wir den Mittelstand retten. Da fürchte ich eine riesige Insolvenzwelle. Es wird aber nichts gemacht.

Frage: Privatleuten wird ja generell empfohlen, ihre Rücklagen sollten ausreichen, um zwei bis drei Monate auch ohne Einkommen – aus welchen Gründen auch immer – zu überstehen. Müssten gesunde Unternehmen nicht auch die Substanz, die Rücklagen haben, um noch zurecht zu kommen?

Hück: Wir leben gerade in einer Zeitenwende. Viele Unternehmen investieren gerade erheblich in die Digitalisierung, da sind viele Rücklagen reingeflossen. Gerade in der Gastronomie gibt es auch viele junge Unternehmen, Startups, die noch gar keine Zeit hatten, Rücklagen zu bilden. Im Gegenteil: Sie haben sich enorm verschuldet. Daimler, VW, BMW – die gibt es schon lange auf dem Markt. Aber viele Selbstständige, viele Handwerker noch nicht.

Rülke: 2019 war auch für die Automobilbranche, für den Maschinen- und Anlagenbau ein schwieriges Jahr. Das hat dazu geführt, dass in vielen Bereichen – gerade im Mittelstand – die Kapitaldecke aufgefressen wurde. Gerade Automobilkonzerne haben auch ihre Marktmacht genutzt, um den Druck auf die mittelständischen Zulieferer zu erhöhen. Da ist die Gewinnmarge deutlich geschrumpft. Zwei oder drei Monate Shutdown allein müsste man überleben – aber die Krise dauert schon länger an.

Frage: Da funktioniert der Markt also nicht?

Rülke: Wenn wir einfach sagen: Wer den Shutdown nicht durchhält, der fällt halt weg, dann würde das unserer Wirtschaft stärker schaden, als wenn wir an der ein oder anderen Stelle mit staatlichen Hilfen einzelnen Unternehmen das Überleben garantieren. Und das sage ich, als liberaler Ordnungspolitiker. In einer derart dramatischen Situation wie dieser Corona-Krise, muss man pragmatisch agieren. Da kann man nicht im volkswirtschaftlichen Lehrbuch nachschlagen. Es geht darum, dass Unternehmen überleben, dass Menschen ihre Arbeitsplätze behalten.

Hück: Mir fehlt auch bei der Kanzlerin, beim Wirtschaftsminister das Interesse am Handwerk, am Mittelstand. Der Mittelstand trägt unsere Wirtschaft, den müssen wir frühzeitig durch entschlossene Hilfen wieder auf die Beine bringen.

Frage: Herr Rülke, bei den Hilfen, die Sie fordern, gibt es entweder Einzelfallprüfungen – und damit Bürokratie. Oder breite Streuung und damit Mitnahmeeffekte oder Betrug. Wie lösen wir dieses Dilemma?

Rülke. Dieses Dilemma ist nicht zu lösen. Wir haben uns – und dazu habe ich auch länger mit dem Ministerpräsidenten telefoniert – dazu entschieden, im Bereich der Soloselbständigen und des kleinen Mittelstandes schnell helfen zu müssen – mit Direkthilfen und auch ohne Bedürfnisprüfung. Das sind dann auch mal verlorene Zuschüsse. Das haben wir aber in Kauf genommen, weil es ansonsten dazu geführt hätte, dass manche nach Abschluss der Prüfung einfach nicht mehr existiert hätten. Beim größeren Mittelstand geht es ja um Kredite. Auch da wird es Ausfälle geben. Aber hoffentlich viele können die Gelder zurückzahlen.

Frage: Schauen wir noch einmal auf die Arbeitnehmer: In den anstehenden Krisenzeiten werden auch die Arbeitnehmervertreter, die Gewerkschaften sich ordentlich umstellen müssen, oder?

Hück: Bestimmt. Schauen wir allein auf das Arbeitszeitgesetz: Wir leben in einer digitalisierten Welt. Nach dem Arbeitszeitgesetz wäre es aber illegal, mal am Samstag oder Sonntag nebenbei eine Mail zu beantworten. Da müssen wir uns überlegen, wie wir über Tarifverträge unsere Menschen schützen – und gleichzeitig das flexible, das mobile Arbeiten ermöglichen. Wir müssen auch mehr in Bildung, in Qualifizierung hineingehen. Die Gewerkschaften werden andere Aufgaben haben. Es geht nicht mehr um kürzere Arbeitszeiten und mehr Lohn, sondern darum, die Transformation mitzugestalten.

Rülke: In Baden-Württemberg investieren die Unternehmen schon von sich aus zwischen vier und fünf Milliarden Euro pro Jahr in die Fortbildung. Richtig ist, dass wir Flexibilität brauchen. Das geht nicht mit einem Arbeitszeitgesetz aus der Bismarck-Zeit.

Frage: Familien sehen mit Sorge die Unsicherheit, die durch andauernde Kita- und Schulschließungen auf sie zukommen….

Hück: Ich glaube, die verheerenden Wirkungen der Schul- und Kitaschließungen für Kinder und Familien sind bei den jetzigen Maßnahmen nicht genug abgewogen. Da fehlt es auch an Kreativität und Klarheit. Wie wäre es mit Schichtbetrieb in den Kitas? Da gibt es so viele Möglichkeiten! Wir hängen derzeit in der Bildung viele Familien ab – ich sehe es bei meiner Stiftung in Pforzheim. Diese Kinder haben keine Laptops zuhause.

Frage: Wo soll das Personal herkommen, das im Zwei-Schicht-Betrieb Kinder betreut?

Hück: Der Pioniergeist sagt nicht, wie es nicht geht. Er sagt, wie es geht. Wir haben so viele Lehrer, die gerne arbeiten würden. Da kann man doch fragen, wer bereit ist, zu helfen. Wir müssen es nur wollen.

Frage: Herr Rülke, glauben Sie, dass das funktioniert?

Rülke: Ich habe auch im Landtag von Baden-Württemberg dafür plädiert, dass wir möglichst rasch Schulen und Kindertagesstätten wieder öffnen. Das einzige Argument, das ich derzeit höre, ist: Es bestehe die Gefahr, dass die Kinder das Virus weitertragen. Wissenschaftlich sieht es so aus, dass der Verlauf einer Corona-Infektion bei Kindern und Jugendlichen deutlich undramatischer ist als bei anderen Altersgruppen. Die Frage, ob Kinder das Virus auch schlechter übertragen, wird gerade untersucht. Ich hoffe, dass sich das bestätigt. Dann ist es dringend notwendig, die Einrichtungen wieder zu öffnen. Die Sozialen Kosten sind im Moment deutlich höher als die Schäden durch das Corona-Virus. Dann sollte es auch am Personal nicht scheitern. Vielleicht übernimmt auch mal die eine Mutter an dem Nachmittag, die andere an einem anderen.

Frage: Gerade bekommt man den Eindruck: Der „starke Staat“, die klare Ansage aus Berlin, wird gerade sehr gewünscht. Erfüllt Sie dieser Mentalitätswandel mit Sorge, Herr Rülke?

Rülke: Ich erkenne noch keine Mentalitätsänderung. Richtig ist, dass in einer Situation, die weite Teile der Gesellschaft als lebensbedrohlich empfunden haben, ein starker, ein schützender Staat gewünscht wurde. Gleichzeitig erlebe ich seit zwei, drei Wochen, dass eine Gegenbewegung einsetzt, wenn die Politik die Maßnahmen nicht mehr begründen kann. Ich hätte Sorgen, wenn das nicht käme. In den letzten sechs Wochen war die Stunde des Staates. Jetzt wird wieder mehr auf Freiheits- und Marktkräfte geachtet.

Frage: Herr Hück, für Sie als Sozialdemokrat war es, ganz im Gegenteil, erfreulich, dass die Gesellschaft plötzlich wieder die Vorteile sieht, wenn ein starker Sozialstaat Sicherheit gibt?

Hück: Wenn es denn nur so wäre. Diese Krise hat gezeigt: Im Gesundheitswesen, in der Bildung muss mehr passieren. Und gerade die Gastronomie hat doch keine Sicherheit, sondern nur Unsicherheit bekommen. Da wurde zu viel willkürlich entschieden. Auch die europäische Politik empfinde ich enttäuschend. Deshalb: Ja, die soziale Gerechtigkeit ist ganz wichtig. Aber wir müssen ein klares Ziel geben.

Frage: Hat sich Ihre Partei im Landtag da besser geschlagen?

Hück: Grundsätzlich: Ja. Aber es ist zur Zeit schwer, sich Gehör zu verschaffen, wie man es für den Mittelstand besser machen möchte, für Frauen und Kinder. Mir wird immer nachgesagt, dass ich ein „Lautsprecher“ bin – das sollte auch für andere in der SPD das Ziel sein, und kein Schimpfwort.

Frage: Und Herr Rülke, Sie als Stimme der FDP im Landtag haben sich am Anfang ja etwas zurückgenommen. War das auch im Nachhinein noch richtig?

Rülke: Am Anfang galt es, die Überforderung des Gesundheitswesens zu verhindern. Da haben wir den Shutdown mitgetragen. Im Bereich der Wirtschaft gab es einen großen Konsens zwischen FDP, CDU, Grünen und SPD, wie zu helfen ist. Nach Ostern wurde aber deutlich, dass die Zahl der Infizierten rapide sinkt, dass nur die Hälfte der Intensivbetten belegt ist. Das hat den Shutdown nicht mehr gerechtfertigt. Das haben wir deutlich gemacht. Vielleicht waren wir nicht laut genug. Aber ich persönlich bekomme ja sonst eher den Vorwurf gemacht, ich sei ein Lautsprecher als ein Leisetreter. Die Corona-Krise verlangt aber sachliche Diskussion.

 

Zur Übersicht Pressemitteilungen