LINDNER-Interview: Wir haben eine Mission, den Wert der Freiheit auch in der Pandemie zu unterstreichen

Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner gab der „Passauer Neuen Presse“ (Montagsausgabe) und „pnp.de“ das folgende Interview. Die Fragen stellte Andreas Herholz.

Frage: Herr Lindner, der Ruf nach deutscher Hilfe für die Menschen in Moria wird lauter. Auch Vizekanzler und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz fordert, dass Deutschland mehr Flüchtlinge aufnehmen soll. Sollte die Bundesregierung hier vorangehen und nicht länger auf eine europäische Lösung warten?

Lindner: Schon zu Ostern haben wir Frau Merkel in einem Brief gebeten, unbegleitete Kinder unter 14 Jahren nach Deutschland zu evakuieren. Damals wären wegen Corona davon keine Effekte für Migrationsbewegungen ausgegangen. Grundsätzlich sollten die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden. Der Alleingang des Jahres 2015 hat Europa nicht gestärkt. Wir brauchen ein europäisches Management der Migration, das humanitäre Verantwortung mit der Kontrolle des Zugangs verbindet. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ist eine Chance für die Bundeskanzlerin, diese offene Flanke ihrer Amtszeit zu schließen.

Frage: Nach der Brandkatastrophe haben die Flüchtlinge in Moria nicht einmal mehr ein Dach über dem Kopf. Die Verhältnisse dort sind menschenunwürdig. Wo bleibt die schnelle Hilfe?

Lindner: Technische und humanitäre Hilfe vor Ort wird der griechischen Regierung nach meiner Kenntnis angeboten. Das begrüßen wir. Politisch brauchen wir ein europäisches Konzept.

Frage: Aber von einer europäischen Lösung ist man nach wie vor weit entfernt. Wo bleibt da die Initiative von Bundesinnenminister Horst Seehofer in der deutschen EU-Ratspräsidentschaft?

Lindner: Das frage ich mich auch. Frau Merkel sollte übernehmen, wenn ihr Innenminister amtsmüde geworden ist. Wir schlagen vor, dass es in Deutschland bald einen Migrationsgipfel von Bund, Ländern und Kommunen gibt. Wir müssen auswerten, wo es bei der Aufnahme von Menschen oder der Abschiebung von illegalen Einwanderern Regelungslücken gibt. Und es muss gemeinsam beraten werden, welche Kapazitäten wir noch haben.

Frage: Der Fall des vergifteten russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny entwickelt sich immer mehr zu Zerreißprobe im deutsch-russischen Verhältnis. Muss es jetzt weitere Sanktionen und einen Stopp des Baus der Erdgaspipeline Nord Stream 2 geben?

Lindner: Putin ist in den Konfliktmodus gewechselt. Da gab es Hacker-Angriffe, politische Morde, Giftanschläge, nukleare Nachrüstung und vieles mehr. Dialog und Kooperation wären gut, aber offenbar versteht man im Kreml nur die Sprache der Macht. Wir müssen also eine klare Antwort geben. Die wirksamste Botschaft wären personenbezogene Sanktionen gegen die Eliten seiner Herrschaft. Der Bundestag sollte die so genannte Magnitzky-Gesetzgebung beschließen. Bei denjenigen, die das russische Volk ausrauben, um das Geld im Westen auszugeben, sollten die Einreise, das Auslandsvermögen und der Immobilienbesitz bei uns eingeschränkt werden. Das tut weh. Bei der Pipeline Nord Stream 2 sollten wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Solange es Hoffnung auf ein dereinst demokratisches Russland gibt, ist ein Moratorium für den Betrieb besser als ein endgültiges Aus.

Frage: Die jüngste Steuerschätzung verheißt nichts Gutes. Die Corona-Krise reißt tiefe Löcher in die öffentlichen Kassen. Gleichzeitig gibt es immer neue Milliarden-Hilfspakete. Brechen jetzt alle Dämme bei der Staatsverschuldung?

Lindner: Das dürfen sie nicht. Die Schuldenbremse kann nicht dauerhaft außer Kraft gesetzt werden. Wir müssen zurück zur Solidität, weil uns sonst die nächste Krise noch härter trifft. Wir brauchen eine Wende, indem wir staatliche Konsumausgaben bremsen und die Wachstumskräfte stärken. Also machen wir Bürokratieabbau, denn der kostet nichts, aber beschleunigt Wachstum. Der Staat sollte seine Infrastrukturvorhaben mit mehr Tempo umsetzen, indem wir die Planungsverfahren verkürzen. Wir sollten in eine steuerliche Entlastung der Betriebe und der Steuerzahler investieren, denn das stärkt die privaten Investitionen. Ich bin dafür, eine Steuerreform in diesen Zeiten sogar mit einem Haushaltsdefizit zu finanzieren. Das könnte die Aktivierungsenergie für selbsttragendes Wachstum.

Frage: Die FDP trifft sich am Wochenende zum Bundesparteitag. Einmal mehr läuten die Totenglocken. Wie kommen die Liberalen wieder aus der Krise?

Lindner: Nach meiner Überzeugung haben wir eine Mission, den Wert der Freiheit auch in der Pandemie zu unterstreichen. Bürgerrechte dürfen nicht auf Dauer eingeschränkt werden. Für den Gesundheitsschutz müssen intelligentere Maßnahmen gewählt werden als Stillstand. Der Weg in die gelenkte Staatswirtschaft darf nicht fortgesetzt werden. Wir brauchen den Einfallsreichtum, unternehmerische Initiative und den Fleiß der Beschäftigten für einen neuen Aufbruch. Unsere Position entspricht in diesen Zeiten nicht dem, was eine Mehrheit in Umfragen zum Ausdruck bringt. Aber das macht unsere Rolle so spannend.

Frage: Ihre Generalsekretärin Linda Teuteberg muss gehen. Die Hamburger Landesvorsitzende Katja Suding zieht sich aus der Politik zurück. Die FDP hat ein Frauenproblem…

Lindner: Das wird uns von manchen eingeredet. Nach dem Parteitag wird der Frauenanteil im Präsidium vermutlich bei 44 Prozent liegen und höher sein als vorher. Die FDP hat das frauenfreundlichste Programm. Wir wollen eine Bildungs- und Betreuungsgarantie, damit Familien nie mehr so im Stich gelassen werden wie bei Corona. Wir wollen die nicht-kommerzielle Leihmutterschaft legalisieren. Die Union hat beim Paragraphen 219a noch immer nichts erreicht, um Frauen in der schwierigen Situation eines Schwangerschaftsabbruchs zu helfen. Wir wollen ein Kinderchancengeld, das unabhängig vom Einkommen gezahlt wird, und die Chancen von Kindern und Jugendlichen verbessert.

Frage: Was spricht gegen eine Frauenquote in der Partei und eine paritätische Doppelspitze?

Lindner: Die Debatte zur Quote liegt hinter uns. Die liberalen Frauen waren entschieden dagegen. Wenn meine Partei eine Doppelspitze will, dann wäre der einfachste Weg, die Funktionen von Partei- und Fraktionsvorsitz zu trennen. Diese Debatte kann man aber nicht abstrakt führen. Dazu müsste eine Persönlichkeit konkret Führungsverantwortung reklamieren, damit der Parteitag im Mai 2021 darüber entscheiden kann.

Frage: Der Parteitag findet mit Hunderten von Delegierten, Gästen und Medienvertretern statt. Ist das in Corona-Zeiten nicht ein hohes Risiko?

Lindner: Ein Parteitag muss nach dem Parteiengesetz in Präsenz stattfinden. Frau Merkel und Herr Söder sprechen darüber, dass sie die Zügel anziehen wollen. Es sollten ja sogar noch Familienfeiern mit mehr als 25 Gästen verboten werden, obwohl das Infektionsgeschehen beherrschbar ist. Wir wollen mit unserem Parteitag zeigen, dass man mit intelligenter Logistik und großer Umsicht auch Veranstaltungen dieser Dimension durchführen kann. Mit dieser Vorsicht sollten auch wieder Kulturveranstaltungen, Konzerte, Events und Kongresse stattfinden können. Da geht es für viele Menschen um das wirtschaftliche Überleben.

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