LINDNER-Interview: Kein Brett vorm Kopf

Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner gab der „Zeit“ (aktuelle Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten Bernd Ulrich und Robert Pausch.

Frage: Herr Lindner, was wissen Sie heute, was Sie vor Beginn der Corona-Krise nicht wussten, wo sind Sie klüger geworden?

Lindner: Die Wertschätzung für persönliche Freiheit wächst dann, wenn sie keine Selbstverständlichkeit ist. Und: Unser gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben, das auf Kooperation und globaler Arbeitsteilung beruht, ist empfindlich. Zudem haben wir Defizite bei der Handlungsfähigkeit unseres Staates.

Frage: Ist die Globalisierung mit ihren komplexen Lieferketten fragiler, als Sie es vorher dachten?

Lindner: Die Komplexität wäre kein Problem, wenn es in der Krise verlässliche Kooperation gegeben hätte. Schon vor Corona sahen wir Tendenzen zu Abschottung, Protektionismus und internationaler Systemkonkurrenz. Auch in Deutschland war die erste Reaktion auf die Corona-Krise eine nationale Sichtweise. Unser Exportstopp für medizinische Güter in die EU war kein Signal der Solidarität. Aus solchen Erfahrungen wird man Konsequenzen ziehen müssen für die neue Epoche, von der ich erwarte, dass sie kommt. 

Frage: Was kennzeichnet diese neue Epoche?

Lindner: Das ist offen. Fest steht nur, dass es einen neuen Aushandlungsprozess geben wird: Zwischen internationalen und regionalen – ich sage bewusst nicht nationalen – Kontexten, zwischen Gegenwart und Zukunft, zwischen Individuum und Gemeinschaft sowie zwischen Freiheit und Sicherheit.

Frage: Es geht also auch eine Epoche zu Ende? Welche war das?

Lindner: Corona markiert möglicherweise das, was wir von 9/11 nur dachten, nämlich eine Tiefenkrise, die einen Wechsel des Entwicklungspfads bedeutet. Anders als damals greift die Krise in den Alltag der Menschen ein. Dieser Aushandlungsprozess bietet uns Chancen. Er muss nicht zu Regression führen, er kann Fortschritt bringen.

Frage: Der Soziologe Andreas Reckwitz sagt in seinem neuen Buch, das Sie ja auch gelesen haben, dass derzeit eine Phase der Deregulierung endet und eine der Phase der neuen Regulierung beginnt. Können Sie dem etwas abgewinnen? 

Lindner: Ja. Als Ordo-Liberaler beklage ich schon seit Jahren, dass wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen der politischen Reflexion über die Regeln enteilt sind. 

Frage: Gilt das auch für die Globalisierung insgesamt?

Lindner: Das gilt für die Unternehmen des Plattformkapitalismus, die den fairen Wettbewerb und die digitale Selbstbestimmung aushebeln können. Das gilt für die Kapitalmärkte. Es umfasst Migration. Und natürlich die Globalisierung. Ich halte sie für ein zivilisatorisches Projekt, weil die internationale Arbeitsteilung Wohlstand bringen kann und wir Menschheitsprobleme wie das Klima nur gemeinsam bewältigen. Wir sollten die Globalisierung nicht abwickeln, aber sie braucht eine Evolution, indem wir Multilateralismus und internationale Institutionen beleben.

Frage: Bedeutet das beispielsweise auch die Rückverlagerung von Produktion nach Deutschland?

Lindner: Das weiß ich nicht. Das wird Ergebnis marktwirtschaftlicher Prozesse sein. Beim staatlichen Bevölkerungsschutz sollten wir jedenfalls nicht nur eine dreimonatige Ölreserve haben, sondern auch eine strapazierfähige Reserve bei medizinischem Schutzmaterial und Medikamenten. Es ist kein Geheimnis, dass wir bei finanzieller Inanspruchnahme durch den Staat und bei Bürokratie eher skeptisch sind, aber mehr zu tun bei den staatlichen Kernaufgaben, das halte ich für überfällig. Dazu gehören Infrastruktur, Schulen, die Blaulichtorganisationen, die Bundeswehr oder die Justiz. 

Frage: Geht das nicht viel weiter? Man konnte doch nun sehen, dass Unterregulierung wie in der Fleischindustrie oder Unterfinanzierung wie im Gesundheitswesen zu massiven Freiheitsbeschränkungen für alle beigetragen haben. Was macht denn der Liberalismus mit solchen Widersprüchen?

Lindner: Das ist kein Problem für den Liberalismus, das ist sein Gegenstand. Liberalismus schafft die Regeln, innerhalb derer die Freiheit des Individuums möglich ist. Uns geht es um die beste Freiheitsbilanz. Zum Beispiel wird die Freiheit größer, wenn man machtvolle Unternehmen an Regeln bindet. Die individuelle Freiheit nimmt zu, wenn ich in einer existenziellen persönlichen Krise von der Gemeinschaft gestützt werde. 

Frage: Könnten Sie das einmal auf die Fleischindustrie anwenden?

Lindner: Manche fordern einen Mindestpreis für Fleisch. Die Regierung möchte in die Vertragsfreiheit der Betriebe eingreifen. Mein Vorschlag wäre ein anderer. Diejenigen in der Branche, die unethisch handeln, bringen Arbeiter in eigenen Schrottimmobilien unter und kassieren dafür hohe Mieten. Da würde ich sagen: Es müssen dann auch in den Unterkünften die Regeln des Arbeitsschutz gelten, beispielsweise mit besseren hygienischen Bedingungen. Das würde die Kostenkalkulation verändern. 

Frage: Egal wie man es dreht, der Preis für Fleisch würde steigen, wenn die Arbeitsbedingungen für die Schlachter und die Lebensbedingungen für die Tiere humanisiert würden, oder?  

Lindner: Vermutlich.

Frage: Und das ist ok?

Lindner: Ein höherer Preis ist kein Selbstzweck. Ernährung darf keine Luxusfrage werden. Aber der Preis muss eben alle Kosten abbilden. Deshalb würde ich die Klimafolgen der Landwirtschaft ebenfalls einbeziehen. Für die Bindung von CO2 durch Aufforstung gäbe es dann einen echten unternehmerischen Anreiz.

Frage: Versuchen Sie selbst eigentlich klimagerechter zu leben?

Lindner: Durchaus. Die liberale Bundestagsfraktion war die erste, die klimaneutral arbeitet. Privat bin ich vor allem kein Anhänger der Wegwerfgesellschaft. Lieber wenige und qualitative Produkte, die länger halten. Sie müssen aber nicht befürchten, dass bewusster Konsum zu einer mönchischen Lebensweise führt.

Frage: Keine Sorge!

Lindner: Schon Adam Smith hat ja geschrieben, dass der unsichtbaren Hand des Marktes das ethische Gefühl des Individuums vorausgeht. Das bedeutet, man darf nicht absehen von den Folgen des eigenen Handelns für andere und die Gesellschaft insgesamt.

Frage: Bedeutet das bezogen auf das Klima, dass wir uns jetzt einschränken um morgen noch Freiheitschancen zu haben? Klingt wie eine Position, die sie noch vor kurzem hart kritisiert haben.

Lindner: Dann hätte sich ein falscher Eindruck vermittelt. Klimaschutz kann sich nicht nur aus Verzicht ergeben, sondern auch aus Veränderung. Unsere Aufgabe als Ingenieur-Nation besteht darin, Technologien zu entwickeln, die Nachhaltigkeit mit Wohlstandserhalt oder gar Wachstum verbinden, also auch Gewinne an Freiheit. Was wir brauchen, sind soziale Mindeststandards und ökologische Obergrenzen. Dazwischen herrschen Freiheit und Aushandlungsprozesse. Der Marktmechanismus kann in den Dienst dieser sozialen und ökologischen Ziele gestellt werden, um sie effizienter zu erreichen. 

Frage: Wie fühlt sich das für Sie an, in einer Gesellschaft zu leben, in der die Systemrelevanten die Schlechtbezahlten sind?

Lindner: Mich hat eine Anekdote beeindruckt von John F. Kennedy, als er Cape Canaveral besuchte. In einem Hangar traf er auf einen Mann, der dort ganz alleine stand und den Fußboden bohnerte. Kennedy ging zu dem Mann und fragte: Was machen Sie? Der Mann sagte: Einen Mann auf den Mond bringen, Mister President. Ich will damit zum Ausdruck bringen, dass in unserer Gesellschaft jeder systemrelevant ist und Respekt verdient. Menschen, die in der Entsorgung arbeiten, genauso wie der Ingenieur im Elektrizitätswerk.

Frage: War es Ihnen denn nicht manchmal unangenehm, dass Sie – so wie wir – so viel mehr verdienen als eine Kassiererin, die sich vor allem zurzeit viel größeren Risiken aussetzt?

Lindner: Was jemand verdient, ist die Folge gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Ich würde mich überfordert fühlen, den jeweils individuell gerechten Lohn festlegen zu müssen.

Frage: Aber müssten diese Menschen, die Kassierer, Pfleger, LKW-Fahrer nicht trotzdem mehr verdienen?

Lindner: Ich bin dafür offen, aber es ist eine Frage von Arbeitgebern, Gewerkschaften und von Konsumenten. Eine Aufgabe gibt es aber für die Politik. Vielen Menschen machen wir es durch unser System von Steuern und Sozialabgaben unnötig schwer. Die Belastungen sind dort besonders drückend, wo sich fleißige Menschen sozialen Aufstieg erarbeiten wollen.

Frage: Sie sprachen eben von sozialen Mindeststandards und ökologischen Obergrenzen für politischen Handeln. Hätten Sie das vor fünf Jahren schon genau so gesehen?

Lindner: (schweigt lange) Das ist eine schwierige Frage, weil sowohl Ja als auch Nein komische Antworten sind.

Frage: Zu welcher tendieren Sie mehr?

Lindner: Nein klingt so, als seien wir Menschen gewesen mit einem totalen Brett vor dem Kopf. Das ist nicht der Fall. Und ja klingt danach, als hätten wir alles vorher gewusst. Wer aber auf neue Entwicklungen immer dieselben Antworten gibt, verkennt die Realität. Lassen Sie uns lieber anhand von konkreten Fragen diskutieren.

Frage: Dann lassen Sie uns über einige konkrete Dinge sprechen, die Sie zuletzt gesagt haben, und die ganz anders klingen als Sie jetzt gerade sprechen.

Lindner: Gut.

Frage: Zur FAZ haben Sie gesagt: „Wir werden den Planeten nicht retten, indem wir einen Morgenthau-Plan für Deutschland umsetzen und die Deutschen zu veganen Radfahrern machen“. Wer fordert einen Morgenthau-Plan für Deutschland?

Lindner: Bestimmte Positionen in der Klima- und Industriepolitik liefen darauf hinaus, dass Produktion aus Deutschland verlagert werden müsste. Global wäre damit ökologisch nichts gewonnen, aber der Verlust an Arbeitsplätzen bei uns wäre evident.

Frage: Aber wer fordert eine Entindustrialisierung Deutschlands?

Lindner: Beispielsweise die Grünen wollen ein Verbot des Verbrennungsmotors, obwohl der mit synthetischen Kraftstoffen eine ökologische Zukunft hätte.

Frage: Es gibt niemanden, der die Bundesrepublik entindustrialisieren will.

Lindner: Das wäre aber die Konsequenz bestimmter Positionen. Ein weiteres Beispiel ist die Forderung der Klimabewegung, den CO2-Preis in Deutschland auf 180 Euro pro Tonne zu erhöhen. Produktion und Arbeitsplätze würden verlagert und woanders mit geringsten ökologischen Standards ersetzt.

Frage: Der Morgenthau-Plan war der Gedanke, ein Volk auf ewig auf dem Niveau eines Agrarstaats zu halten, um es für seine Verbrechen zu bestrafen und gewissermaßen für alle Zeit unschädlich zu machen. Und das setzen Sie gleich mit der Forderung, den Verbrennungsmotor ein bisschen früher abzuschaffen als Sie das wollen.

Lindner: Es handelt sich um eine alte politische Metapher. Der Fraktionsvorsitzende der Grünen in Baden-Württemberg hat sie zeitgleich verwendet. Sie unterstellten mir neulich, ich würde rhetorisch gerne auf Tontauben schießen. Mir scheint, das Stilmittel der methaphorischen Zuspitzung ist auch Ihnen nicht fremd.

Frage: Gibt es denn auch das Interesse aus dem Kanzleramt, wie Sie es vor ein paar Wochen in der Debatte um Lockerungsstrategien sagten, „Regieanweisungen“ zu geben und „Maulkörbe“ zu verhängen?

Lindner: Denken Sie an das Wort der Bundeskanzlerin von Diskussionsorgien, als es um Öffnungen der Corona-Maßnahmen ging. Eine sachliche Debatte soll so durch moralische Kategorien unterdrückt werden.

Frage: Es wurde doch überall debattiert. 

Lindner: Das habe ich nicht in Frage gestellt. Ich habe allerdings den Unwillen bestimmter politischer Kreise kritisiert. Dem dient die Metapher.

Frage: Es geht um den polemischen Gehalt der Metaphern. 

Lindner: Das ist eine Geschmacksfrage, die ihre Leser beurteilen sollen. Zur Debattenkultur haben Gesellschaftswissenschaftler wie Wolfgang Merkel und Julian Nida-Rümelin jedenfalls dieselbe Position vertreten wie ich.

Frage: Das ist Feuilleton. Sie sind Politiker.

Lindner: Die Beurteilung steht Ihnen frei. Sie könnten mir aber empfehlen, zu einer Plastiksprache zu wechseln…

Frage:…wir wollen gar nichts empfehlen, sondern nur das Rätsel lösen, warum die FDP trotz erkennbar guter konzeptioneller Ideen in der Krise ist – oder ist sie überhaupt in der Krise?

Lindner: Wir haben gerade unser Leitbild überarbeitet. Die Kerngedanken sind dabei bestätigt worden. Ein neuer Aspekt kam hinzu: Verantwortung für die Zukunft in ökologischer wie in ökonomischer Hinsicht. Uns erschien es notwendig, diesen Punkt zu akzentuieren. Der fehlte in der Darstellung unseres Selbstverständnisses. 

Frage: Das war eine Antwort, aber nicht auf die Frage, ob die FDP in einer Krise ist.

Lindner: Wollen nicht Sie das beurteilen? 

Frage: Sie sind Parteivorsitzender.

Lindner: Als solcher sehe ich, dass die Menschen sich gegenwärtig hinter der Regierung versammeln und der Typus des strengen Landesvaters populärer ist als liberale Positionen. Wie die politische Landschaft nach Corona aussieht, ist offen. Ökonomisch wie ökologisch leben wir in der Gegenwart auf Kosten der Zukunft. Hinzu kommen Fragen der digitalen Modernisierung des Landes und der Freiheitsrechte. Darüber erwarte ich Debatten, in denen wir gute Beiträge leisten können.

Frage: Sie haben in der FDP ja viele Talente. Warum ist jemand wie Konstantin Kuhle immer noch weniger bekannt als zum Beispiel Sabine Leutheusser-Schnarrenberger?

Lindner: Ich bin der größte Anhänger der Pressefreiheit…

Frage:… wir sind Schuld!

Lindner: Mir geht es um die Mechanismen der Mediendemokratie. Wir haben tatsächlich exzellente Persönlichkeiten. Aber es dauert, bis man sich einen Bekanntheitsgrad erarbeitet hat. Ich kann den Redaktion der Talkshows nicht sagen, wen sie einladen. Ich kann nur Plattformen eröffnen, auf der sich Talente zeigen. Dabei muss man Geduld haben.

Frage: Würden Sie sich wünschen, dass es nicht immer Sie sind, der in den Talkshows sitzen muss?

Lindner: Das ist mein Ziel. Die FDP hat eine politische Bandbreite, die durch Köpfe repräsentiert wird. Je mehr davon sichtbar sind, desto besser.

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