LAMBSDORFF-Interview: Höchste Zeit, die EU-Vorbeitrittshilfen zu stoppen

Das FDP-Präsidiumsmitglied und Vizepräsident des Europäischen Parlaments Alexander Graf Lambsdorff gab „Focus Online“ das folgende Interview. Die Fragen stellte Joseph Hausner:

Frage: Die Türkei hat am Sonntag für das Präsidialsystem gestimmt, das sich Präsident Recep Tayyip Erdogan gewünscht hat. Bedauern Sie die Entscheidung der Türken?

Lambsdorff: Ja, ich bedauere sie. Mehr noch: Das ist ein schwarzer Tag für die Türkei. Das Parlament ist entmachtet, die Justiz unter die Fuchtel der Regierung gestellt. Der Präsident kann schalten und walten, wie es ihm gefällt. Das hat mit Demokratie nichts mehr zu tun. Als Demokrat kann man das nur bedauern.

Frage: Welche Folgen hat das Türkei-Referendum aus europäischer Sicht?

Lambsdorff: Eins ist klar: Die Türkei hat sich mit diesem Referendum auch gegen die EU entschieden. Daraus müssen wir nun Konsequenzen ziehen. Ich fordere von der Bundesregierung, es Österreich gleichzutun und sich für ein Ende der EU-Beitrittsgespräche einzusetzen. Es geht dabei nicht darum, der Türkei den Rücken zuzuwenden. Wir müssen aber eher in Richtung eines Grundlagenvertrags denken.

Frage: Was heißt das?

Lambsdorff: In einem solchen Vertrag sollen Themen geregelt werden, bei denen wir weiter mit der Türkei zusammenarbeiten wollen. Das sind Fragen der Energiepolitik, der Wirtschaftspolitik, der Außenpolitik, gerade auch das Thema Syrien. Die Mechanismen für eine pragmatische, ehrliche Zusammenarbeit zwischen EU und Türkei vertraglich festzulegen ist viel besser, als weiter an einem zombiehaften Beitrittsprozess festzuhalten.

Frage: Bislang erhält die Türkei als EU-Beitrittskandidat ja auch Hilfen im Milliardenhöhe. Glauben Sie, darauf wird Ankara gerne verzichten?

Lambsdorff: Ich glaube, die Türkei ist auf diese Vorbeitrittshilfen gar nicht angewiesen. Sie sind ohnehin völlig aus der Zeit gefallen, denn niemand glaubt mehr ernsthaft an einen EU-Beitritt der Türkei. Deswegen ist es höchste Zeit, die Auszahlung der EU-Vorbeitrittshilfen zu stoppen.

Frage: Das Ergebnis fiel am Ende knapp aus. Haben die europäischen Länder einen Fehler gemacht, indem sie sich vor dem Referendum so deutlich gegen die Verfassungsreform gestellt haben? Das könne Erdogans Befürworter zusätzlich mobilisiert haben.

Lambsdorff: Nein, Europa hat keinen Fehler gemacht, im Gegenteil. Als Europäer sind wir stolz auf unsere demokratischen Werte: Unabhängigkeit der Justiz, Pressefreiheit, parlamentarische Kontrolle der Regierung. Das sind Werte, die nicht beliebig sind, die wir mit Überzeugung vertreten. Und es ist ja schon bemerkenswert, dass doch fast 49 Prozent für „Nein“ stimmten, obwohl die „Ja“-Kampagne 90 Prozent der Sendezeit im Fernsehen hatte. Offenbar teilen auch viele Menschen in der Türkei diese demokratischen Werte.

Frage: In der Türkei selbst war es knapp. Aber die Auslandstürken in vielen EU-Ländern, etwa in Österreich, den Niederlanden oder Deutschland, haben mit überwältigender Mehrheit für das Präsidialsystem gestimmt. Was sagt uns das?

Lambsdorff: Das Bild ist uneinheitlich: Die Türken in Großbritannien oder Spanien haben beispielsweise zu mehr als drei Viertel mit „Nein“ gestimmt. Und in Deutschland ist die entgegen aller Annahmen eher niedrige Wahlbeteiligung von unter 50 Prozent bemerkenswert.

Frage: Wie deuten Sie das?

Lambsdorff: Viele Deutschtürken haben sich wohl gesagt: Das ist ein Geschehen, das sich in der Türkei abspielt und deswegen gehe ich nicht zur Wahl, mich interessiert mehr das, was hier in Deutschland passiert. Das ist erstmal ein gutes Zeichen. Diejenigen, die gewählt haben, haben größtenteils für Erdogan gestimmt. Das ist unschön, ohne Frage. Aber wir dürfen nicht alle Türken in Deutschland über einen Kamm scheren. Vom Abstimmungsergebnis hierzulande pauschal auf eine gescheiterte Integration zu schließen, greift zu kurz.

Frage: Erdogan hat Europa im Wahlkampf als „verrottenden Kontinent“ bezeichnet und angekündigt, das Verhältnis auf den Prüfstand zu stellen. Liegen wir jetzt im Clinch mit der Türkei?

Lambsdorff: Ich wünsche mir, dass wir die Sprüche aus der Wahlkampfzeit nach dem Ende der Kampagne nun nicht mehr auf die Goldwaage legen. Wichtig ist, dass wir nach vorne schauen. Der Beitrittsprozess kann nicht weitergehen, aber wir wollen eine gute Zusammenarbeit mit der Türkei. Wenn Erdogan dabei nicht mitmachen will, ist das seine Entscheidung. Aber Europa muss prinzipiell für Gespräche mit diesem wichtigen Nachbarland offen sein.

Frage: Glauben Sie, dass Erdogan sich von Europa abwendet? Er hatte wiederholt davor gewarnt, dass sich die Türkei auch anderen Ländern zuwenden könne.

Lambsdorff: Das hören wir seit Jahren immer wieder. Das ist eine leere Drohung. Die türkische Wirtschaft ist auf Europa angewiesen, auf Touristen, auf Technologie, auf Investitionen. Erdogan hat deswegen ein großes Interesse an guten Beziehungen zu Europa.

Frage: Was ist, wenn Erdogan wie angekündigt schnell die Todesstrafe wiedereinführt?

Lambsdorff: Abwarten, diese Ankündigung gab es ja auch schon öfter. Für mich ist aber jetzt schon klar, dass die Türkei kein EU-Beitrittskandidat mehr ist. Einige Unionspolitiker machen jetzt plötzlich die Einführung der Todesstrafe zum Lackmustest. Für mich reicht dafür die Abschaffung der Demokratie vollkommen aus.

Frage: Haben wir nun eine Diktatur in der Türkei?

Lambsdorff: Das Ende der Gewaltenteilung öffnet zumindest die Chance für jemanden, der diktatorisch herrschen will. Ob Erdogan weiter in diese Richtung geht, werden wir sehen. Die Unterdrückung der Pressefreiheit und das Ende der richterlichen Unabhängigkeit sind jedenfalls alarmierend.

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