KÖRNER-Gastbeitrag: Ungerechter Wiederaufbaufonds

Das FDP-Präsidiumsmitglied Moritz Körner schrieb für die „Welt“ (Dienstag-Ausgabe) den folgenden Gastbeitrag.

Auf Initiative der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und des französischen Präsidenten Emmanuel Macron schlägt die EU-Kommission die Schaffung eines europäischen Wiederaufbaufonds vor. Dieser soll zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise neben Krediten Zuschüsse an die Nationalstaaten verteilen – finanziert durch eine Verschuldung der EU. Das Narrativ zu diesem Vorschlag lautet: Solidarität.

Die Ärmsten in der Corona-Krise sollen unterstützt werden, bereits stark verschuldete Staaten nicht durch weitere Schulden erdrückt werden. Das kommt gut an. Die Italiener wollen nicht mehr die EU verlassen. Deutschland und Frankreich werden für ihren mutigen Vorschlag gewürdigt. Alles wird gut.

Doch Anspruch und Wirklichkeit stimmen nicht überein. Belgien hat mit deutlichem Abstand die meisten Corona-Todesfälle pro Kopf in der EU, die vierthöchste Verschuldungsquote in der EU und erwartet für 2020 aktuell einen Wirtschaftseinbruch von 10,6 Prozent. Trotzdem wird Belgien mehr in den Fonds einzahlen müssen, als es herausbekommen wird.

Ungarns Wirtschaftskraft pro Kopf ist knapp halb so hoch wie die Spaniens. Trotzdem werden die Spanier mehr als das Doppelte pro Kopf an Wiederaufbaufondshilfen bekommen als die Ungarn. Die Zuschüsse gehen also im Gegensatz zu dem, was europäische Solidarität gebieten sollte, weder gezielt an die wirtschaftlich ärmsten noch an die gesundheitlich am meisten von der Gesundheitskrise betroffenen Staaten.

Wenn man das Kleingedruckte der „Next Generation EU“ getauften Hilfsinitiative liest, wird rasch klar, dass das kein Versehen ist. Der von der EU-Kommission erdachte Wiederaufbaufondsbedürftigkeitsschlüssel bezieht sich weder auf die Zahl der Corona-Kranken noch auf die wirtschaftlichen Belastungen durch das Coronavirus für das Gesundheitswesen, und schon gar nicht auf den erwarteten Wirtschaftseinbruch infolge der Corona-Krise.

Stattdessen bezieht sich der Schlüssel auf die Wirtschaftskraft der EU-Staaten im Jahre 2019, also im Jahr vor der Corona-Krise, und auf die Arbeitslosenrate der einzelnen Staaten zwischen 2015 und 2019, also in den fünf Jahren vor der Corona-Krise. Das bedeutet, so absurd das klingen mag, dass für den Anspruch auf Corona-Krise-Wiederaufbaufondshilfen die Corona-Krise keine Rolle spielt. Es sollen überproportional jene Staaten profitieren, die seit Jahren hohe Arbeitslosenraten haben.

Damit vollzieht die EU-Kommission einen fatalen Paradigmenwechsel: Die Zuschüsse gehen zum ersten Mal nicht mehr überproportional an die Länder mit der niedrigsten Wirtschaftskraft, sondern an die Länder mit den am wenigsten wettbewerbsfähigen Arbeitsmärkten. Mit anderen Worten: Die Hilfen gehen nicht mehr vor allem an jene, die die härtesten Lebensumstände haben, sondern an jene, die die schlechtesten Reformresultate erzielen.

Mit einer durchschnittlichen Arbeitslosenrate von 17,7 Prozent in den vergangenen fünf Jahren hat Spanien erst vor wenigen Tagen die Einführung einer Grundsicherung von 462 EUR pro Monat beschlossen. In Ungarn, mit knapp einem Viertel der spanischen Arbeitslosenquote und der Hälfte der spanischen Pro-Kopf-Wiederaufbaufondshilfen, bleibt die Sozialhilfe unverändert. Man verliert weiterhin nach drei Monaten die Arbeitslosenunterstützung und muss für die Sozialhilfe in der Höhe des halben spanischen Grundeinkommens verpflichtend kommunale Arbeitsdienste verrichten. Gerechtigkeit geht anders.

Die EU-Kommission betont, dass die geplanten Zuschüsse nur für nationale Investitionsprogramme fließen werden, die die langfristigen wirtschaftspolitischen Kernziele der EU im Rahmen des sogenannten Europäischen Semesters berücksichtigen. Das ist ein guter Schritt – und ein zentraler Vorteil gegenüber den von vielen geforderten Euro-Bonds, mit denen sich Mitgliedstaaten ohne jede europäische Koordination auf Kosten der anderen Mitgliedstaaten hätten verschulden können.

Diese Pläne wurden jedoch bereits am Tag ihrer Präsentation vom italienischen Außenminister in Zweifel gezogen, als dieser ankündigte, die Hilfen aus dem Wiederaufbaufonds für Steuergeschenke ausgeben zu wollen. Er musste rasch vom italienischen Finanzminister korrigiert werden: Selbstverständlich sollen die EU-Gelder nur für Reforminvestitionen verwendet werden, Steuernachlässe werden anderweitig finanziert.

Diese italienische Realsatire macht die Stoßrichtung der europäischen Wirtschaftspolitik nach Corona deutlich: Investitionen werden mit EU-Schulden, Wahlgeschenke mit nationalen Schulden beglichen. Entsprechend ist davon auszugehen, dass Strukturreformen weiterhin auf die lange Bank geschoben und lediglich ohnehin geplante Digitalisierungs- und Klimaschutzmaßnahmen in fördertopfkonformen Investitionsprogrammen zusammengefasst werden. Nachhaltigkeit wird so nicht gesichert.

Bezahlen sollen die Hilfen nach dem Willen der EU-Kommission nicht direkt die wohlhabenden Staaten. Stattdessen will sich die EU selbst um die Finanzierung kümmern, indem unter anderem eine Digitalsteuer und eine CO2-Grenzsteuer eingeführt werden, deren Einnahmen in den EU-Haushalt fließen. Obwohl mehr für die Steuergerechtigkeit und den Klimaschutz getan werden muss, ist es unwahrscheinlich, dass diese Eigenmittel in Europa in naher Zukunft mehrheitsfähig sein werden.

Die EU-Kommission will neue Handelssteuern auch ohne Einigung mit den wichtigsten internationalen Handelspartnern einführen. Überspitzt formuliert hieße das: Die Stützung der europäischen Reformnachzügler wird durch Handelskriege mit Ländern finanziert, die der EU bei der Digitalisierung voraus und beim Klimaschutz hinten nach sind. Das würde sowohl den globalen Freihandel als auch die Wirtschaftskraft Deutschlands gefährden. Die Ausgabenseite des Vorschlags braucht eine belastbarere Einnahmenseite.

Um die nationalen Regierungen von ihren Plänen zu überzeugen, ist EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen offensichtlich bestrebt, allen Mitgliedstaaten Geschenke zu machen. Entsprechend führt sie bei dem ebenfalls zu beschließenden Mehrjährigen Finanzrahmen der EU die modernisierungshemmende Prioritätensetzung bisheriger EU-Haushalte fort.

Ihr Ziel beim 1,1-Billionen-Budget scheint nicht mehr die Erneuerung der EU, sondern zunehmend die Befriedigung von Partikularinteressen zu sein. Sie schlägt eine Kürzung der Erasmusgelder für Studenten und eine Erhöhung der Agrarsubventionen vor. Wenn Kühe mehr zählen als Studenten, werden die Prioritäten für die Zukunft Europas falsch gesetzt und gerade die junge Generation im Stich gelassen.

Selbstverständlich muss jedem vernunftbegabten Menschen klar sein, dass es jetzt auf Europa ankommt. In der Krise darf es keine Denkverbote geben, und in einer Ausnahmesituation müssen Ausnahmen gemacht werden. Die Mitgliedstaaten werden entweder gemeinsam aus der Krise kommen oder gar nicht aus der Krise kommen. Nationale Lösungen reichen nicht. Deutschland kann und sollte helfen. Die Antwort der EU muss aber fairer und ergebnisorientierter sein als bisher vorgeschlagen. Durch gezielte Veränderungen am Von-der-Leyen-Plan könnten noch entscheidende Verbesserungen erreicht werden.

 So sollten als Bedingung für den Bezug von Wiederaufbaufondshilfen neben dem Investitionsprogramm eines Mitgliedstaates auch dessen Gesamthaushalt und Wirtschaftspolitik mit den Vorgaben des Europäischen Semesters übereinstimmen. Die Hilfen sollten prinzipiell als Kredite vergeben werden und lediglich bei erfolgreichem Wirtschaften im Sinne des Europäischen Semesters in Zuschüsse umgewandelt werden. Um den Mitgliedstaaten stärker basierend auf deren Wirtschaftskraft und deren Entwicklung in der Krise Unterstützung zu bieten, sollte zudem der Bedürftigkeitsschlüssel für Zuschüsse dem Kohäsionsfondsverteilungsschlüssel angepasst werden

Die Gerechtigkeit erfordert, dass sichergestellt wird, dass Mittel aus dem EU-Haushalt nicht missbräuchlich verwendet werden. Durch eine belastbare Rechtsstaatskonditionierung müssen Auszahlungen an Rechtsstaatsignoranten einbehalten werden können. Wer die Werte der EU missachtet, sollte keine geldwerten Vorteile aus der EU ziehen. Es darf keinen Rabatt auf die Grundwerte geben. Des Weiteren muss sichergestellt sein, dass nur jene Staaten Hilfsgelder bekommen, die den Europäischen Staatsanwalt anerkennen und im eigenen Land entsprechend auch Korruptionsfälle untersuchen lassen.

Die Generationengerechtigkeit erfordert, dass die Entscheidung, wie die geplanten EU-Schulden zurückgezahlt werden, nicht in die Zukunft verschoben wird. Es muss bereits jetzt klargestellt werden, dass unter dem Deckmantel der Eigenmittelstärkung keine wirtschaftsgefährdenden Steuern eingeführt werden. Darüber hinaus muss sichergestellt sein, dass Höhe und Dauer der geplanten Verschuldung nicht jugendfeindlich sind. Die namensgebende „Next Generation EU“ darf nicht allein für die Kosten der „Current Generation EU“ aufkommen.

Zudem sollte ein größerer Teil der Wiederaufbaufondsmittel, anstatt direkt an die Mitgliedstaaten zu fließen, im Rahmen von EU-Programmen investiert werden: Jetzt ist der richtige Augenblick, um europäische Zukunftsinvestitionen wie die EU-Wasserstoffstrategie oder ein europäisches Schnellzugnetz voranzubringen. Darüber hinaus sollte auch der reguläre EU-Haushalt weiter modernisiert und auf Zukunft ausgerichtet werden. Insbesondere Aufgaben mit europäischem Mehrwert wie Bildungsaustausch, grenzüberschreitende Polizeikooperation, Forschung und Digitalisierung müssen gestärkt werden. Dafür kann auf nationale Rabatte verzichtet werden. Das wäre gelebte europäische Solidarität mit Weitblick.

Noch ist es nicht zu spät. Die Verhandlungen zwischen der EU-Kommission, den Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament treten in den kommenden Wochen in die entscheidende Phase. Ein europäischer Zukunftsfonds als Teil eines ambitionierteren EU-Haushaltes ist das richtige Solidaritätsinstrument, um sicherzustellen, dass sich die EU wirtschaftlich rasch erholt und global wettbewerbsfähig bleibt. Durch strengere europäische Ausgabenkritik und gezieltere Investitionen in die Modernisierung der EU könnte Europa tatsächlich gestärkt und geeinter aus der Krise hervorgehen.

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