BEER-Interview: Erst einmal in Europa aufräumen

Die FDP-Generalsekretärin und Spitzenkandidatin der FDP zur Europawahl, Nicola Beer, gab der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (Samstagsausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten Matthias Alexander und Tobias Rösmann.

Frage: Wenn Sie demnächst Abgeordnete in Straßburg sind, sitzen Sie innerhalb von zwei Jahren im dritten Parlament. Sind Sie Parlaments-Hopperin, oder werden Sie immer nach oben weggelobt?

Beer: Die Europawahl ist diesmal wirklich eine Richtungsentscheidung. Die Frage lautet: Schaffen wir es, die Europäische Union grundlegend zu reformieren? Oder überlassen wir sie der Gefahr, weiter von innen zu zerbröseln, zum einen unter den Attacken der Populisten in den Mitgliedstaaten, aber auch durch den Stillstand, den wir in Brüssel durch die faktische große Koalition aus EVP und Sozialisten dort seit Jahrzehnten beobachten können? Das ist genau der Moment, in dem man entscheiden muss, wie stark einem dieses Europa am Herzen liegt. 

Frage: Und Ihnen liegt es am Herzen?

Beer: Ja. Als Staatssekretärin der hessischen Landesregierung habe ich von 2009 bis 2012 schon Verantwortung in diesem Bereich getragen. Ich kenne das Brüsseler Geschäft. Ich bin leidenschaftliche Europäerin, und weil ich das bin, möchte ich diese Europäische Union nicht aufgeben. Ich möchte sie verändern, weil sie momentan nicht in guter Verfassung ist.

Frage: Sie bleiben dann aber in Straßburg? Oder sind die UN das nächste Ziel?

Beer: Jetzt haben wir erst einmal die Aufgabe, in Europa aufzuräumen. Das wird schon etwas Zeit in Anspruch nehmen.

Frage: Wie erklären Sie jemandem, der sich für europäische Politik überhaupt nicht interessiert, warum er am 26. Mai wählen gehen soll?

Beer: Es gibt Fragen, die selbst ein so starkes Land wie Deutschland nicht mehr alleine entscheiden kann. In der Umwelt- und Klimapolitik zum Beispiel oder bei der Migration. Auch in Fragen der internationalen Wettbewerbspolitik zeigt sich das. Da sind wir als Europäerinnen und Europäer gemeinsam stärker. Wir haben mit dem europäischen Binnenmarkt, mit etwa 500 Millionen EU-Bürgern, ein großes Gewicht, wenn wir eine einige, eine starke Stimme sind.

Frage: Können Sie das dem skizzierten Bürger etwas konkreter machen?

Beer: Nehmen Sie zum Beispiel das Thema Freihandel. Herr Trump ist ja der Meinung, dass das Ganze irgendwie ungleich verteilt wäre. Dass wir mit unseren deutschen Automobilen eine Gefahr für die USA darstellen würden, was natürlich Quatsch ist.

Frage: Na ja, wir bauen die besseren Autos.

Beer: Das stimmt. Aber warum das eine innenpolitische Gefahr für die USA sein soll, weiß ich nicht. Im jüngsten Handelsstreit ist Frau Merkel nach Washington gefahren, dann ist Herr Macron nach Washington gefahren. Aber erst als wir den Einfluss der gesamten Europäerinnen und Europäer in Person der Handelskommissarin Cecilia Malmström geltend gemacht haben, hat sich Trump bewegt. Wären wir uns einig, könnten wir in der Außenpolitik eine genauso gewichtige Stimme haben, wenn es um Abrüstung, Frieden und Menschenrechte geht.

Frage: Man hat nach wie vor das Gefühl, Europa ist weit weg von den Menschen. Es gibt auch kaum Medien, die das transportieren. Wie lässt sich das ändern?

Beer: Die mangelnde europäische Medienöffentlichkeit ist ein Problem. Politiker und Medien müssen gemeinsam übersetzen, was in Brüssel passiert. Die Art und Weise, wie Entscheidungen getroffen werden, ist anders in dem Dreieck aus Kommission, Rat und Parlament, wo man miteinander verhandeln muss. Sie ist auch anders, weil die Kommission aus den Mitgliedstaaten bestückt wird und deren Mitglieder keine Regierung bilden, wie wir es von einem Kabinett kennen. Außerdem gibt es im Parlament keine klaren Oppositions- und Koalitionskonstellationen. Das bietet gleichzeitig aber auch eine riesige Chance. Denn dadurch lassen sich Mehrheiten wirklich an der Sache entlang organisieren, weil sie nicht vorher festgelegt sind. Im Bundestag gilt etwas anderes. Ein Vorschlag der Freien Demokraten kann noch so gut sein–weil er aus der Opposition kommt, hat er keine Chance auf eine Mehrheit. 

Frage: Ist denn ein demokratisches System, das sich gewöhnlichen Menschen nicht zumindest im Kern selbst erklärt, überhaupt geeignet, um zu begeistern? Es muss doch einfacher gehen.

Beer: Da bin ich sofort dabei. Das ist einer der Gründe, warum wir die Europäische Union an Haupt und Gliedern reformieren wollen. Wir wollen das Parlament stärken, indem wir ihm ein Recht zur Gesetzesinitiative geben. Momentan darf es sich nur mit Vorlagen der Kommission beschäftigen. Wir wollen außerdem die Kommission verkleinern. Keiner braucht 28 Kommissare. Maximal 18 Kommissare müssten auskömmlich sein, gerne auch nur 16. Damit stellen wir sicher, dass wir uns auf die wirklich großen Fragen konzentrieren. Brüssel ist zu oft technokratisch, detailverliebt, und es reguliert, sobald sich die Gelegenheit bietet. Bürgerinnen und Bürger finden aber, sie müssen nicht an Silvester vor den Gefahren des Bleigießens beschützt werden. Stattdessen hätten sie gerne eine europäische Migrationspolitik, die fair und human ist, gleichzeitig aber steuert und ordnet. Um schneller voranzukommen, müssen wir mehr auf Mehrheitsentscheidungen setzen, um aus dem etwas trägen Flusskahn einen hochseetauglichen Segler zu machen.

Frage: Volker Bouffier hat kürzlich bei einer Veranstaltung sinngemäß gesagt: In dem Moment, in dem wir eine europäische Arbeitslosenversicherung einführen, haben wir in Deutschland 80 Prozent für die AfD. Wie weit müssen die Einzelstaaten für den europäischen Integrationsprozess nationale Privilegien aufgeben?

Beer: Für gemeinsame soziale Sicherungssysteme, wie wir sie in Deutschland kennen, gibt es in den europäischen Verträgen keine Grundlage. Es ist auch der falsche Ansatz, angesichts der Arbeitslosigkeit in einigen Mitgliedstaaten sofort und zuerst an die Organisation von Sozialtransfers zu denken. Ich möchte stattdessen gerade in diesen Regionen die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft stärken und so die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Wir müssen vor allem dort in Infrastruktur und Qualifikation investieren, um die Menschen stark zu machen, und ihnen einen Aufstieg aus eigener Kraft ermöglichen, anstatt sie mit einem Sozialscheck abzuspeisen und ruhigzustellen.

Frage: Aber ist das nicht Rosinenpickerei? Deutschland will einerseits eine gemeinsame Migrationspolitik, weil das Land in Europa die Hauptlast der Zuwanderung trägt. Andererseits wird eine gemeinsame Sozialpolitik abgelehnt.

Beer: Es geht doch darum, die Zuständigkeiten der politischen Ebenen einzuhalten. Arbeitslosigkeit lässt sich am besten direkt vor Ort bekämpfen. Je weiter sie entfernt sind, desto schlechter sind die Ergebnisse. Wir können aber durchaus die Standortqualitäten der Regionen, die sich schwertun, verbessern, damit dort zukunftsträchtige Branchen und Arbeitsplätze aufgebaut werden. Warum haben wir zum Beispiel keinen gemeinsamen Berufsausbildungsmarkt? Warum umfasst das Austauschprogramm Erasmus plus zwar Studierende, aber keine Auszubildenden?

Frage: Der große Imagekiller für mehr Europa ist die endlose Diskussion um den Brexit. Blicken Sie da noch durch?

Beer: Ja schon, aber das Ganze ermüdet allmählich. Es ist jetzt der allerletzte Moment, in dem die Briten für etwas eine Mehrheit finden müssen – und nicht dauernd nur gegen etwas sein können. Gleichzeitig zeigt der Brexit leider exemplarisch, wie die Mitgliedstaaten der Europäischen Union momentan auseinanderdriften. Vor fünf Jahren hätte sich keiner vorstellen können, dass wir in so einen chaotischen Zustand geraten.

Frage: Was ist zu tun, um ein komplettes Chaos zu verhindern?

Beer: Zweierlei. Auf der einen Seite müssen wir zusehen, dass dieser Prozess möglichst geordnet zum Abschluss gebracht wird. Mir wäre am liebsten, es gäbe einen Exit vom Brexit mit Hilfe eines zweiten Referendums. Aber das müssen die Briten entscheiden. Auf der anderen Seite gilt aber auch: Wenn ein derart wichtiger Partner gehen will, der wirtschaftlich so stark ist wie die 18 kleinsten Mitgliedstaaten zusammen, dann muss sich die Europäische Union dringend Gedanken darüber machen, wie sie sich erneuern kann. Wir müssen den Club endlich so gut machen, dass keiner mehr rauswill.

Frage: Aber man hat den Eindruck, dass Italien und einige osteuropäische Länder eher retardierend unterwegs sind. Wer sind die Treiber für ein Reform-Europa?

Beer: Wir haben eine sehr agile Wissenschaftsszene, wir haben tolle Gründungen und Start-ups, die hier aber nicht auf Arbeitsbedingungen stoßen, die sie in Europa halten. Das müssen wir ändern, indem wir nicht länger so zersplittert vorgehen. Ein praktisches Beispiel: Die ganze Welt diskutiert über Sprung-Innovationen. Ein komisches Wort, aber es beschreibt die Geschichte, eine völlig neue Idee zu haben und nicht eine bereits bestehende Technologie weiterzuentwickeln. Wir haben im Bundeshaushalt dafür einen Mini-Betrag eingeplant, alle anderen 27 Mitgliedstaaten tun auch ein bisschen was. Warum bündeln wir das Geld nicht? Warum nehmen wir nicht die Ressourcen aller EU-Staaten in die Hand, gründen eine europäische Agentur für Sprung-Innovationen und ziehen damit weltweit die besten Köpfe an? Wenn wir nicht schnell handeln, werden wir auch diesen Wettbewerb mit China und den USA verlieren.

Frage: Warum will die FDP nach der Europawahl mit „La République en marche“ des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zusammenarbeiten? Was verbindet eine Eliten-Partei wie die FDP mit einer solchen Volksbewegung?

Beer: Von wegen Elitenpartei. Wir legen nur Wert auf eigenständiges Denken. Die Zusammenarbeit erklärt sich ganz einfach. Wir stehen vor der Grundsatzentscheidung: Wir reformieren gründlich, oder wir überlassen Europa den Verkrustungen der großen Koalition beziehungsweise den Aushöhlungen der Populisten. Deshalb arbeiten wir mit „en marche“ gemeinsam daran, eine neue Mehrheit für Europa zu organisieren. Die Chancen stehen nicht schlecht. Wir haben die Möglichkeit, zweitstärkste Kraft im Europäischen Parlament zu werden. Und dann werden wir nach der Wahl mal schauen, ob wir endlich zu der Reform-Agenda kommen, die Europa so dringend braucht.

Frage: Und Sie werden dann Kommissionspräsidentin?

Beer: Jetzt gewinnen wir erst einmal die Wahl. Mit der Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager haben wir eine sehr taffe, sehr kompetente, durchsetzungsstarke Persönlichkeit, die hervorragend für die Spitze der Kommission geeignet wäre. Nach 13 Männern sollten wir es ruhig mal mit einer Frau versuchen.

Frage: Wie groß ist Ihre Angst vor einem Rechtsruck in Europa?

Beer: Indem wir zeigen, wie wir diese Europäische Union reformieren möchten, wollen wir den Populisten den Wind aus den Segeln nehmen. Wir hoffen, Bürgerinnen und Bürger davon zu überzeugen, dass das, was ihnen Populisten vorgaukeln, keine Lösungen sind. Dass mehr Abschottung in einer sich rasch verändernden Welt nicht zum Vorteil Deutschlands und der anderen europäischen Staaten ist.

Frage: Ihre Angst ist also nicht so groß?

Beer: Es ist nie gut, sich von Angst leiten zu lassen. Angst ist das politische Geschäftsmodell der Extremen, also der Populisten rechts wie links. Ein Freidemokrat wird immer mit Vernunft, mit Argumenten und mit Augenmaß für zukunftsfähige Lösungen eintreten.

Frage: Wie erklären Sie sich, dass Deutschland, was den politischen Populismus angeht, noch relativ gut dasteht?

Beer: Die wirtschaftliche Situation hat viel damit zu tun. Wir sehen ja, wie die Angst vor dem Statusverlust, vor dem Abrutschen die Menschen auch bei uns empfänglich macht für populistische Parteien. Sicher hat aber auch unsere Vergangenheit dazu geführt, dass wir Deutschen zweimal hingucken, wenn es gegen Minderheiten, Andersgläubige und Fremde geht. Trotzdem müssen wir wachsam bleiben. Wir haben einen wachsenden Antisemitismus aus vielfachen Quellen, auch aus Teilen der Muslime. Dem müssen wir uns entgegenstellen.

Frage: Wie sollte die Mehrheit der EU-Staaten mit Osteuropäern wie Viktor Orbán umgehen, der sich europa-, flüchtlings- und ausländerfeindlich äußert?

Beer: Bei den Themen Rechtsstaatlichkeit, Bürgerrechte, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Wissenschaftsfreiheit kann es keine Abstriche geben. Da müssen wir unsere Verfahren ertüchtigen. Wir haben eingeleitete Artikel-7-Verfahren zur Überprüfung, ob eine Verletzung dieser Werte vorliegt, die dann im Rat hängenbleiben.

Frage: Warum?

Beer: Weil es keine Automatismen gibt. Wir würden gerne die Grundrechteagentur stärken, damit es ein permanentes Monitoring aller Mitgliedstaaten gibt. Wir wollen Demokratiedefizite nicht nur punktuell angehen, sondern permanent. Das hätte auch den Vorteil, dass der ständig gegenseitig gemachte Vorwurf, ein solches Verfahren würde nur politisch instrumentalisiert, nicht greifen könnte. Außerdem gäbe es ein klares, unabhängiges, rechtsstaatliches Verfahren mit automatischen Sanktionen wie dem Einbehalten von Fördergeld oder dem Verlust von Stimmrechten. Aber klar ist auch: Wir dürfen die Brücken zu solchen Staaten nicht komplett abreißen lassen. Es geht immer vor allem um die Bevölkerung und nicht in erster Linie um die aktuell gewählte Regierung.

Frage: Wie viele Sprachen sprechen Sie eigentlich?

Beer: Verhandlungssicher bin ich in Französisch und Englisch. Da bewege ich mich nahezu so wie im Deutschen. An der Ziehenschule habe ich ein französisch-deutsches Abitur gemacht. Das Frankophile erschließt mir auch die anderen romanischen Sprachen. In Italienisch, Spanisch und, wenn es langsam gesprochen wird, auch in Rumänisch bin ich in der Lage zu verstehen, worum es geht. Russisch, das meine zweite Fremdsprache in der Schule war, werde ich in Brüssel wohl nicht so oft brauchen. Das ist allerdings auch etwas eingerostet.

 

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