Lockerungen sind kein Gnadenakt, sondern Pflicht
In bis dato kaum vorstellbarem Ausmaß hat der Staat Grundrechte eingeschränkt. Wolfgang Kubicki sieht die Regierung in der Pflicht, diese Eingriffe mit vernünftigen Erklärungen zu legitimieren.
Ziele der Corona-Einschränkungen: eine Chronologie
Richtigerweise sage Merkel, „dass die Einschränkungen nur akzeptabel und erträglich seien, wenn die Gründe ‚transparent und nachvollziehbar sind‘ “, resümiert der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende. Aber: „Sie gab keine Erklärung darüber ab, was das epidemiologische Ziel der Bundesregierung ist.“ Die Vorgabe und Rechtfertigung der Freiheitseinschränkungen sei zunächst gewesen, die Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. „Dieses Ziel wurde mittlerweile übererfüllt“, so Kubickis Einschätzung. „In einigen Krankenhäusern wurde sogar Kurzarbeit beantragt.“
Als nächstes sollte die Geschwindigkeit der Verdoppelung der Infektionszahlen „auf mehr als zehn Tage, noch besser auf 14 Tage reduziert werden. Wir sind bei 50 Tagen“, macht der FDP-Vize deutlich. Dann sei „die ominöse Reproduktionsquote“ (auch bekannt als R-Faktor) die offizielle Bezugsgröße gewesen. Es galt, den Wert unter 1 zu bringen — dies sei sowohl vor dem Lockdown als auch derzeit weitestgehend bereits der Fall. Die nächste Marke kam einen Tag nach der Regierungserklärung: Das Robert-Koch-Institut gab an, erst wenn die Zahl der Neuinfektionen auf „wenige Hundert“ gedrückt werde, seien weitere Lockerungen möglich.
Merkels Regierungserklärung war laut Kubicki „aus grundrechtlicher Sicht eine große Enttäuschung“
Wolfgang Kubicki wendet sich mit seiner Kritik direkt an Merkel: „Wenn sie als Bundeskanzlerin schon den Anspruch erhebt, gemeinsam mit den Ministerpräsidenten für die Grundrechtseinschränkungen zuständig zu sein, dann wäre es ihre Pflicht gewesen, die Einschränkungen in der Regierungserklärung zu erläutern, ihre Wirksamkeit entlang des selbst gesteckten Zieles zu begründen und transparent zu machen.“ Es sei ihre Aufgabe gewesen, den Menschen im Land eine Perspektive zu geben, was nach ihrer Ansicht wann und wie aufgehoben werden muss — dies sei jedoch nicht geschehen, so Kubickis ernüchternde Schlussfolgerung.
Der Rechtspolitiker betont: Die Eingriffe in unsere Grundrechte aufzuheben sei „kein höflicher Gnadenakt der Exekutive“, sondern „ihre verfassungsmäßige Pflicht“. Sein Appell lautet daher: „Wir müssen aufpassen, dass durch Corona keine Verschiebung des grundrechtlichen Blickwinkels eintritt“. Es sei Aufgabe des demokratischen Rechtsstaates „Entscheidungen transparent und nachvollziehbar zu gestalten und bestmöglich die verfassungsmäßigen Grundrechte zu wahren.“