Corona-Politik gehört wieder in die Hand der Parlamente
Wolfgang Schäuble, Claudia Roth, Thomas Oppermann, Dietmar Bartsch und Christian Lindner: Sie eint die Sorge, dass die Regierung seit Monaten Entscheidungen am Bundestag vorbei trifft und die Demokatie in eine Schieflage bringt.
FDP-Chef Christian Lindner erläutert in der „Welt“: „Das Grundgesetz sieht die Parlamente — allen voran den Deutschen Bundestag — als erste Gewalt im Staat. In den vergangenen Monaten hat jedoch lediglich ein kleiner Kreis von Politikern über massive Freiheitseinschränkungen für 83 Millionen Menschen entschieden. Und das in einem Gremium von 16 Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin, das in der deutschen Verfassung keine Erwähnung findet.“ Auch wenn die Steuerung der Pandemiebekämpfung im Kreise der Exekutive manchem praktisch und effizient erscheinen möge, sie sei es nicht automatisch. Notverordnungen müssten die absolute Ausnahme bleiben und dürften nicht zur Regel der Politik werden.
Im „heute-journal“ riet Christian Lindner zu einer „differenzierten Betrachtungsweise“. Im Parlament sollte „über die weitere Krisenstrategie“ beraten werden, damit öffentlich klar werde, welche Freiheitseinschränkungen nötig sind und welche nicht. Eine Maßnahme wie das Beherbergungsverbot hätte das Parlament sicher nicht getroffen, so Lindner. „Wir haben es mit sehr weitgehenden Einschränkungen der Freiheit zu tun.“ Man habe zu Beginn der Pandemie Zuständigkeiten vom Parlament an die Regierung gegeben, weil eine Überforderung des Gesundheitssystems drohte. „Diese Überforderung des Gesundheitssystems gibt es nicht“, betont Lindner. „Auch Stand heute nicht.“ Deshalb solle jetzt im Parlament über die weitere Krisenstrategie beraten werden. „Damit öffentlich klar wird, welche Freiheitseinschränkungen sind jetzt nötig. Damit auch geprüft werden kann, welche Entscheidung ist wirklich wirksam.“
Am 25. März hatte der Bundestag angesichts der heraufziehenden Corona-Pandemie offiziell „eine epidemische Lage von nationaler Tragweite“ festgestellt. Dies schaffte die Grundlage für Sonderrechte, die es Gesundheitsminister Spahn erlauben, über Anordnungen und Rechtsverordnungen Maßnahmen zum Infektionsschutz der Bevölkerung „unbeschadet der Befugnisse der Länder“ auf den Weg zu bringen. Die Freien Demokraten wollen diesen Zustand schon seit dem Sommer beenden. Sie wollen die „weitreichenden und verfassungsrechtlich zweifelhaften Verordnungsermächtigungen“ zurückfahren.
Jetzt sind sie mit ihrer Meinung, dass der Bundestag übergangen wird, nicht mehr allein. Zuletzt hat die Co-Chefin der Grünen-Fraktion, Katrin Göring-Eckardt gefordert: „Wir müssen das zurückholen in den deutschen Bundestag, dort muss entschieden werden.“ Auch der Parlamentarische Geschäftsführer der Linken, Jan Korte, sieht ein Ungleichgewicht in der Corona-Politik zu Lasten des Bundestags. Auch beim Vize-Chef der Unionsfraktion, Carsten Linnemann, ist das Unbehagen groß: „Das Parlament muss wieder selbstbewusster seine Rolle als Gesetzgeber einfordem und dann aber auch ausfüllen.“ Nur Markus Söder sieht das anders.
Verordnungsermächtigungen wirken wie eine Droge
FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae kritisiert: „Die weitreichenden Verordnungsermächtigungen wirken auf manchen Minister wie eine Droge, von der sie nicht mehr loskommen und am Ende immer mehr brauchen.“ Der Bundestag und die Landesparlamente müssten sich ihre Macht jetzt wieder zurückholen. Mit Blick auf die Meldung, dass das Gesundheitsministerium im Eilverfahren die Sonderrechte für Spahn über März 2021 hinaus verlängern und ausbauen will, sagt Thomae: „Der Gesundheitsminister scheint die Lektion aus den jüngsten Gerichtsentscheidungen nicht verstanden zu haben. Minister und Staatsregierungen sind nicht die besseren Gesetzgeber“, betonte er. „Im Rausch der Befugnisermächtigungen fielen so manche berechtigten Interessen von Arbeitnehmern und Unternehmern, Eltern und Ehrenamtlern unter den Tisch der Ministerialbürokratie.“
Das wirksamste Mittel zum Brechen der Infektionswelle ist eine rasche und deutliche Reduzierung von Kontakten. Doch einige der Maßnahmen, die das erreichen sollen, sind vielerorts als unverhältnismäßig eingestuft worden. „Setzt sich die Reihe der Schildbürgerstreiche der Regierungschefs weiter fort, drängen sie immer mehr an sich rechtstreuen Bürgern Illegalität auf“, sagt Marco Buschmann mit Blick auf Maßnahmen, die sich nicht als gerichtsfest und damit als nicht legal erwiesen haben. In der ersten Phase kippten Gerichte Vorgaben, wonach nur Geschäfte bis 800 Quadratmeter wieder öffnen dürfen. Nun sind es Beherbergungsverbote, die wieder kassiert worden sind.
Er schreibt: „So verlockend es für die Regierungschefs erscheint, sich als rüstige Krisenbekämpfer mit vielen neuen Ideen zu präsentieren und wie sehr das kurzfristig auch demoskopisch gemessene Popularität steigern mag: Mittelfristig gefährdet das die wichtigste Waffe im Kampf gegen Corona – das rechtstreue und verantwortungsbewusste Verhalten der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung. Der Schaden, der dem Rechtsstaat dadurch entsteht, wird möglicherweise auch dann noch bleiben, wenn Corona lange besiegt ist. Deshalb gehört die Corona-Politik wieder in die Hand der Parlamente.“
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