WISSING-Interview: Deutschland wird keine Flüchtenden aus der Ukraine zurückweisen
FDP-Präsidiumsmitglied und Bundesminister für Digitales und Verkehr Dr. Volker Wissing gab dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ das folgende Interview. Die Fragen stellten Alisha Mendgen und Kristina Dunz.
Frage: Herr Wissing, die Ampel ist noch nicht einmal fünf Monate alt und hat mit Anne Spiegel bereits eine Ministerin verloren. Wie groß ist der Schaden für die gesamte Koalition?
Wissing: Die Gründe, die zum Rücktritt von Kollegin Spiegel geführt haben, stehen nicht im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit als Bundesministerin. Ich habe mit Anne Spiegel in Rheinland-Pfalz lange Jahre gut zusammengearbeitet. Ich habe Respekt vor ihrer Entscheidung und wünsche ihr und ihrer Familie alles Gute.
Frage: Es gibt auch Kritik an den SPD-Ministerinnen Christine Lambrecht und Nancy Faeser. Wäre es schon Zeit für eine Kabinettsumbildung?
Wissing: Die Regierung arbeitet geschlossen und hat sich in der Krise als sehr handlungsstark erwiesen. Mit Nancy Faeser arbeite ich zum Beispiel sehr eng zusammen, besonders, was die Verteilung der Ukraine-Geflüchteten angeht. Ich schätze die Zusammenarbeit mit ihr sehr.
Frage: Es kommen inzwischen weniger Geflüchtete aus der Ukraine nach Deutschland. Sind die Sonderzüge noch ausgelastet?
Wissing: Wir haben sehr schnell dafür gesorgt, dass flüchtende Menschen aus der Ukraine von Polen aus nach Deutschland befördert werden können. In Hannover, Cottbus und Berlin gibt es Drehkreuze zur Verteilung. Die Zahl der Menschen, die mit dem Zug nach Deutschland flüchten, ist im Vergleich zur Höchstphase am Anfang des Krieges deutlich zurückgegangen – von rund 8200 auf aktuell rund 2500 Personen pro Tag. Wir halten die Logistik- und Transportstrukturen jedoch aufrecht, weil wir den Kriegsverlauf nicht vorhersehen und jederzeit einen Anstieg der Flüchtlingszahlen erleben können. Wir müssen mit einer weiteren Eskalation rechnen und vorbereitet sein. In der Ukraine in Not geratene Menschen sollen Zuflucht in Deutschland finden können.
Frage: Gibt es dafür eine Obergrenze? Das war eine der sensibelsten Diskussionen in der Flüchtlingskrise 2015.
Wissing: In Spitzenzeiten sind täglich rund 120.000 Ukrainer nach Polen geflüchtet – Warschau etwa ist mit über 300.000 Flüchtlingen an seine Grenzen gestoßen. Es ist richtig, dass wir unsere Transportkapazitäten auf der Schiene aufrechterhalten und auch Vorbereitungen für Luftbrücken getroffen haben. Wenn eine Überlastung in ukrainischen Nachbarländern droht, müssen wir uns wieder für eine EU-weite Verteilung starkmachen. Ich stehe in ständigem Kontakt mit meinen europäischen Kollegen.
Frage: Wieviele Menschen kann Deutschland aus der Ukraine aufnehmen, gibt es dafür eine Obergrenze?
Wissing: Diese Frage stellt sich nicht. Deutschland kann und wird keine Flüchtenden aus der Ukraine zurückweisen.
Frage: Die EU bringt das fünfte Sanktionspaket gegen Russland auf den Weg: Auch die Einfuhr russischer Schiffe soll verboten werden. Was ist mit Schiffen, die russische Ladung transportieren?
Wissing: Schiffe unter russischer Flagge dürfen nicht mehr in europäische Häfen einlaufen. Für die per Schiff transportierten Waren gelten außerdem die bereits sehr umfangreichen Beschränkungen aus diesem und den vorherigen Sanktionspaketen.
Frage: Russische Energieträger werden auch über Schiffe nach Deutschland gebracht – für sie gelten Ausnahmen. Sind Sie für ein Energieembargo gegen Moskau?
Wissing: Deutschland hat sehr zügig gemeinsam mit den europäischen Partnerländern und den USA ein umfassendes Sanktionspaket auf den Weg gebracht. In die Entscheidung über Sanktionen müssen aber auch die Auswirkungen auf unsere Gesellschaft einfließen. Nichts wäre für Herrn Putin hilfreicher, als wenn wir Maßnahmen ergreifen würden, über die unsere Gesellschaft sich zerstreitet und am Ende spaltet.
Frage: Deutschland ist in der EU ein Anker. Wenn Deutschland wankt, wie würde sich das auf Europa auswirken?
Wissing: Deutschland ist sich der eigenen Rolle sehr bewusst und agiert entsprechend verantwortungsvoll. Wir vermeiden Alleingänge und agieren eng abgestimmt mit unseren europäischen Partnern.
Frage: Wäre der Zusammenhalt eher gesichert, wenn Putin das Gas abdreht und nicht Deutschland auf Gaslieferungen verzichtet?
Wissing: Deutschland ist aufgrund der politischen Entscheidungen diverser Vorgängerregierungen abhängig von russischem Erdgas. Wir arbeiten intensiv daran, diese Abhängigkeit schnellstmöglich zu beenden, zum Beispiel durch die Diversifizierung der Lieferanten, aber auch durch einen Ausbau der erneuerbaren Energien. Christian Lindner hat diese zurecht als Freiheitsenergien bezeichnet.
Frage: Welche Auswirkungen hat der Krieg auf die Lieferketten und Spediteure?
Wissing: Das Verkehrsministerium verfolgt die Entwicklungen sehr aufmerksam. Wir sind in engem Austausch mit den betroffenen Branchen. Die Lieferketten sind stark beeinträchtigt. Die Seidenstraße wird etwa weniger genutzt, weil Spediteure Risiken eingehen, wenn sie Waren darüber befördern. In Polen fehlen rund 100.000 ukrainische LKW-Fahrer, weil sie zum Wehrdienst einberufen worden sind. Das sind 37 Prozent aller Lastwagenfahrer in Polen. Deswegen war es mir auch so wichtig, eine Schienenbrücke in die Ukraine aufzubauen. So können mit wenig Personal große Mengen Hilfsgüter transportiert werden.
Frage: Wiederum arbeiten viele Polen in Deutschland, die nun im eigenen Land gebraucht werden.
Wissing: Der Fachkräftemangel in Polen hat auch Auswirkungen auf uns. Die Situation im Logistikbereich ist infolge des Kriegs besonders angespannt. Wir beobachten die Lage sehr genau und sind im ständigen Austausch mit den anderen Ressorts, den europäischen Kollegen und der Branche, um auf etwaige neue Entwicklungen reagieren zu können. Die Branche leidet aber auch unter den hohen Energiekosten und braucht dringend Unterstützung.
Frage: Zurück zur Koalition: An der FDP sind die Impfpflicht und das Tempolimit gescheitert. Kritiker empfinden den Freiheitsbegriff ihrer Partei mitunter desaströs. Bekommen Sie manchmal ein mulmiges Gefühl, dass Sie doch falsch liegen? In China wütet Corona gerade wieder.
Wissing: Es war richtig, den Bundestag bei einer so sensiblen Frage wie der Impflicht entscheiden zu lassen und nicht mit Koalitions- oder Kabinettsdisziplin zu arbeiten. Der Souverän hat entschieden. Es gab keine Mehrheit. Das sollten wir respektieren. Dass die FDP als freiheitliche Partei, die sehr stark auf die individuelle Eigenverantwortung setzt, eine Impfpflicht kritisch sieht, kann niemanden überraschen. Wir haben eine Impfpflicht im Wahlkampf abgelehnt und sind unserer Position treu geblieben. Persönlich habe ich auch gegen die Impfpflicht gestimmt, respektiere aber auch andere Entscheidungen.
Frage: Was ist, wenn Deutschland im Herbst die nächste Welle erlebt?
Wissing: Wir verfügen mittlerweile über Erfahrung im Umgang mit der Pandemie und über ein breites Spektrum möglicher Maßnahmen.
Frage: Ein Tempolimit würde Energie sparen und Umwelt schonen. Sie sagen, Deutschland habe nicht genug Schilder. Die Umwelthilfe bietet an, für die Schilder zu sorgen. Können Sie sich dann zu einem Tempolimit durchringen?
Wissing: Ein Tempolimit ist nicht Gegenstand des Koalitionsvertrages, weil dessen Beitrag zum Klimaschutz hinter dem anderer Maßnahmen zurückbleibt. Die Koalition hat sich auf umfangreiche Klimaschutzmaßnahmen verständigt, das ist sinnvoller und effektiver als ein Tempolimit. Ich halte auch nichts davon, in Krisenzeiten polarisierende Themen voranzutreiben, sondern jene, hinter denen sich eine gesellschaftliche Mehrheit versammelt.
Frage: Nach Umfragen ist eine große Mehrheit der Bevölkerung für ein 130-Tempolimit. Ihr Koalitionsvertrag ist durch den russischen Krieg gegen die Ukraine ohnehin überholt.
Wissing: ist wahr, dass der russische Krieg gegen die Ukraine eine andere Prioritätensetzung seitens der Regierung einfordert und dies setzen wir auch um. Es ist aber nicht so, dass damit der gesamte Koalitionsvertrag obsolet wäre. Es gibt ohne Zweifel eine sehr laute Gruppe, die ein Tempolimit fordert, aber Lautstärke ist kein zuverlässiger Indikator für eine gesellschaftliche Mehrheit. Im Übrigen gehen die Vorschläge der Umweltverbände in Richtung Tempolimit 100 und 80. Dafür gibt es in Deutschland keine Mehrheit.
Frage: Zwischen Berlin und Magdeburg darf man streckenweise schneller als 130 fahren. Ein tschechischer Milliardär ist mit 418 Kilometer pro Stunde dort entlanggebrettert. Wie muss der Staat auf solch ein Verhalten reagieren?
Wissing: Laut Straßenverkehrsordnung darf man nur so schnell fahren, dass das Fahrzeug ständig beherrscht wird. Ich habe persönlich keinerlei Verständnis für so ein unverantwortliches Verhalten.
Frage: Zu steigenden Energiepreisen: Als Entlastungsmaßnahme führt die Ampel ab Juni das 9-Euro-Ticket für den ÖPNV ein. Glauben Sie, dass mehr Menschen umsteigen werden?
Wissing: Das ist die spannende Frage. Jetzt haben wir die Chance, nach 90 Tagen genau zu evaluieren, ob Leute umgestiegen sind und wenn ja, warum. Wir wollen zudem rausfinden, wie sehr der Preis eines Tickets das Nutzungsverhalten beeinflusst. Diese Frage diskutieren wir seit vielen Jahren.
Frage: Damit zukünftig viel mehr Menschen umsteigen, muss einiges verbessert werden: Pünktlichkeit, Taktung, Schienennetz. Wie viel Geld wollen Sie für den ÖPNV in die Hand nehmen?
Wissing: Ich will den ÖPNV gemeinsam mit den dafür zuständigen Ländern verbessern. Wir sollten dabei aber nicht nur über Geld reden, sondern vor allem auch über die Frage, wofür es ausgegeben wird. Ich habe den Ländern eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe vorgeschlagen, um unter anderem über Qualitätskriterien, Mindeststandards und Verbundstrukturen zu beraten. Wir haben vereinbart, dass sie bis zur Verkehrsministerkonferenz im Herbst einen konkreten Maßnahmenkatalog für einen Ausbau- und Modernisierungspakt vorstellt.
Frage: Bis zur Vorstellung der Ergebnisse im Herbst werden die Regionalisierungsmittel für den Nahverkehr also nicht angehoben? Im Koalitionsvertrag ist die Erhöhung noch für 2022 angekündigt.
Wissing: Die FDP will einen attraktiven ÖPNV. Mir ist sehr wichtig, dass wir uns darüber verständigen, was wir gemeinsam erreichen wollen und strukturelle Verbesserungen vereinbaren. Verkehrsverbundübergreifende Ticketangebote sind nach wie vor Mangelware. Das sollte sich ändern.
Frage: Wie?
Wissing: Wir brauchen eine Modernisierung, eine Reform der Strukturen. Da gehe ich mit den Ländern in den Austausch. Mit mehr Geld allein löst man diese Fragen nicht. In Rheinland-Pfalz habe ich als Verkehrsminister zum Beispiel die Strukturen verschlankt und die Zahl der Zweckverbände um mehr als die Hälfte reduziert.