WISSING-Gastbeitrag: Diskutieren wir doch über Corona - im Parlament!

Der FDP-Generalsekretär Dr. Volker Wissing schrieb für „Die Welt“ (Donnerstag-Ausgabe) den folgenden Gastbeitrag:

Corona ist für die gesamte Gesellschaft ein gigantischer Stresstest. Die Debatte über die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie wird mit sehr viel Engagement und Wut, aber wenig Empathie und Verständnis geführt. Menschen, welche die Corona-Maßnahmen kritisch sehen, werden schnell als Covidioten abgestempelt. Umgekehrt schwadronieren Corona-Verharmloser wie der Vorsitzende der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag von einer Corona-Diktatur und kriegsähnlichen Zuständen. Ein Dialog, ein Ausgleich zwischen beiden Gruppen findet kaum statt. Maximale Abgrenzung statt Annäherung.  Und dass, obwohl es hier um nichts Geringeres geht als um unser aller Gesundheit.

So wichtig und so belebend starke Positionen für die demokratische Debatte sind, die entsprechenden Debatten müssen dann aber auch geführt werden. Genau dafür haben wir in Deutschland die parlamentarische Demokratie.

Warum nutzen wir unsere demokratischen Institutionen nicht mehr für die gesellschaftliche Versöhnung und Befriedung? Das demokratische System ist in weiten Teilen nichts anderes als ein groß angelegtes öffentliches Debattentool, dass dafür sorgt, dass das Für und Wider einer jeden Entscheidung öffentlich und damit transparent diskutiert wird. Der Prozess mag mühsam sein, mit seinen Reden, seinen Anhörungen. Er ist anstrengend in seiner Komplexität und er ist langatmig in Bezug auf die Dauer der Verfahren, aber er ist nichts desto trotz unersetzlich.

Es ist bedauerlich, dass wir gerade in der Corona-Krise nicht viel stärker die unserer Demokratie innewohnende Kraft der Debatte und damit die Kraft des Ausgleichs genutzt haben. Sowohl die Anhängerinnen und Anhänger schärferer Regelungen hätten ihre Argumente vertreten gesehen, als auch die Verfechterinnen und Verfechter eines skeptischeren Kurses. In Anhörungen hätte eben nicht nur ein Wissenschaftler mit einer bestimmten Auffassung gesessen, sondern auch ein Vertreter der Gegenseite. Beide wären befragt worden, beide hätten geantwortet und die Bürgerinnen und Bürger hätten sich ihre eigene Meinung bilden können.

Bei dem seitens der Bundesregierung bevorzugten Format eines Gesprächs der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidentinnen und –präsidenten der Länder findet die öffentliche Erörterung und damit Abwägung der verschiedenen Argumente nicht statt. Die Bürgerinnen und Bürger sehen in den Nachrichten Bilder von schwarzen Limousinen, die beim Bundeskanzleramt vorfahren und nach ein paar Stunden des Wartens verkünden die Kanzlerin sowie ein Vertreter der Ministerpräsidenten die Ergebnisse. Warum was wie entschieden wurde? Wir wissen es nicht. Dank gut informierter und recherchierender Medien erfahren wir manchmal im Nachgang, wer welche Auffassung vertrat und sich durchsetzen konnte oder aber unterlag.

Im Vergleich zu unseren etablierten demokratischen Verfahren ist die Merkel-MP-Runde eine große Blackbox, die zwar Entscheidungen produziert, aber ansonsten weitgehend intransparent agiert.

Nun ist das unter administrativen Aspekten sicher eine sehr effiziente Form der Entscheidungsfindung, aber sie hat Schwächen. Die Akzeptanz und Glaubwürdigkeit von Maßnahmen leitet sich aus der Überzeugung ab, dass sie nachvollziehbar und transparent sind. Da die Abwägung von Argumenten in der Regierungskonsultation aber quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden hat, ist die Transparenz nicht gegeben. Die Bürgerinnen und Bürger haben eben nicht miterlebt, wie Politikerinnen und Politiker ihre Positionen in einer Debatte vertreten haben. Sie haben einen administrativ geprägten Prozess der Entscheidungsfindung erlebt, aber keine echte Abwägung.

Warum haben sich so viele Gesellschaften auf demokratische Systeme und Verfahren verständigt? Weil diese eben dazu beitragen, dass Menschen sich nicht von oben bestimmt fühlen, sondern mitbestimmen. Es ist paradox, dass unsere Demokratie unsere demokratischen Institutionen in einer Situation, in der sie ihre Stärken voll ausspielen könnten, so wenig nutzt.

Gerade der Deutsche Bundestag ist ein enorm konstruktives Parlament. Wichtige Entscheidungen über die Eurorettung wurden in großem Verantwortungsbewusstsein in kürzester Zeit beschlossen. Unsere Demokratie kann schnell, sie kann auch effizient sein, wenn man sie denn lässt. Vor allem aber ist sie transparent und ist damit ein wirksames Gegenmittel gegen die abnehmende Glaubwürdigkeit und Akzeptanz von Corona-Maßnahmen. Es ist eben etwas anderes, wenn eine Bundeskanzlerin sich hinter verschlossenen Türen mit Ministerpräsidentinnen und –präsidenten berät oder wenn im Plenum des Deutschen Bundestages Abgeordnete mit Leidenschaft sich das Für und Wider der unterschiedlichen Positionen um die Ohren hauen.

Unsere Demokratie kann versöhnen, sie kann ausgleichen, das ist nicht nur ihre Kernkompetenz, es ist ihr Wesenskern. Demokratische Auseinandersetzungen gefährden nicht den Zusammenhalt, sie stärken ihn.

Unsere Demokratie ist moderner, effizienter und wichtiger denn je. Sie hätte es verdient, dass wir ihr wieder mehr zutrauen. Sie hat unser Land in der Vergangenheit zusammengehalten, sie kann es immer noch. Lassen wir es doch einfach zu. Einen Versuch wäre es wert!

Zur Übersicht Pressemitteilungen