STAMP-Gastbeitrag: Wir brauchen einen Fachkräfte-Booster für den Wirtschaftsstandort
FDP-Präsidiumsmitglied, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen, stellvertretender Ministerpräsident und Spitzenkandidat zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen Joachim Stamp schrieb für „Handelsblatt“ und „Handelsblatt Online“ (Dienstag-Ausgabe) den folgenden Gastbeitrag:
Der Fachkräftemangel, der in manchen Branchen sogar ein Arbeitskräftemangel ist, droht zum Konjunkturkiller zu werden. Der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, warnt vor ernsten Wohlstandsverlusten.
Handwerksbetriebe, mittelständische Unternehmen und Industrie klagen ebenso über den Mangel an Arbeitskräften wie der Gesundheits- und Pflegebereich oder pädagogische Einrichtungen von Kita bis Schule.
Der Befund ist nicht neu, die Antworten der Politik aber sind viel zu zögerlich. Erhöhtes Tempo ist zwingend, zumal die Notwendigkeit, aus der Abhängigkeit russischer Energie herauszukommen, eine weitere Beschleunigung des Transformationsprozesses hin zu erneuerbaren Energien nötig macht.
Auch das erfordert zusätzliche Fachkräfte – nicht nur Wissenschaftler und Ingenieure, auch Facharbeiter und Handwerker. Alle sind gefordert, alte Zöpfe abzuschneiden.
Konservative müssen sich umfassend öffnen für Einwanderung und modernere Lebensbiografien; Sozialdemokraten, Grüne und Gewerkschaften für Entbürokratisierung der Arbeitswelt.
Dabei sollten wir uns von einem Irrtum befreien: Die Wertigkeit einer Bildungsbiografie darf sich nicht über ihre Akademisierung definieren.
Die Bildungsexpansion der sozial-liberalen Koalition der 1970er-Jahre war ein historisch notwendiger Schritt. Die Öffnung neuer Bildungswege für Kinder aus Nichtakademikerhaushalten hat Hunderttausende erfolgreiche Biografien ermöglicht, mehr Selbstbestimmung und Innovation hervorgebracht.
Und auch heute noch bleibt es eine Herausforderung, Talenten aus eher bildungsfernen Familien alle Karrierewege offenzuhalten. Es ist aber ein Missverständnis gewesen, dass Talentförderung unabhängig von der Herkunft bedeutet, immer mehr Kinder zum Abitur führen zu müssen. Das hat zur Entwertung mittlerer Bildungsabschlüsse und beruflicher Bildung geführt.
Wir brauchen daher jetzt einen Paradigmenwechsel. Es muss wieder selbstverständlich werden, mit einem mittleren Bildungsabschluss verantwortungsvolle Tätigkeiten auszuüben.
Mehr noch: Wir müssen die Wertigkeit beruflicher Bildung in unserer Gesellschaft neu verankern. In Nordrhein-Westfalen schlagen wir daher vor, nach dem Vorbild der Schweizer Bundesverfassung die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung in die Landesverfassung zu schreiben.
Wir brauchen Durchlässigkeit. So selbstverständlich es sein muss, dass ein Hauptschüler bis zur Doktorarbeit kommen kann, so wertvoll muss es auch sein, wenn Kinder aus Akademikerfamilien gute Handwerker werden.
Zur Umsetzung dieses Paradigmenwechsels für eine Aufwertung der beruflichen Bildung müssen wir uns besonders auf drei Ebenen konzentrieren: eine Stärkung der mittleren Schulabschlüsse, ein erleichterter Übergang zwischen akademischer und beruflicher Bildung sowie eine Angleichung des Lebens von Auszubildenden an das von Studierenden.
Selbstverständlich müssen wir die Schulformen, die zu mittleren Bildungsabschlüssen führen, stärken – aber wir müssen auch schon früh ein Interesse bei den Schülerinnen und Schülern wecken, beispielsweise einen handwerklichen Beruf auszuüben.
Lassen wir sie vermehrt während der Schulzeit praktische Erfahrungen sammeln und klären wir über die Ausbildungs- und Verdienstmöglichkeiten rechtzeitig auf. Denn für uns ist klar: Die Berufsorientierung soll und muss auch Lust auf mehr machen.
Damit dies gelingt, brauchen wir auch eine Neustrukturierung der Ausbildung. Teilzeitmodelle sind im Berufsleben längst Standard – warum eigentlich nicht bei der Ausbildung?
Das sollten wir ändern! Und wir brauchen eine modulare Ausbildung mit Zwischenqualifikationen. Auch die Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung muss gestärkt werden.
Bachelor-Absolventen einer Hochschule müssen nach einer Berufsbildungszeit auch einen Berufsausbildungsabschluss erlangen können.
Damit sich mehr Menschen wieder bewusst für die Ausbildung entscheiden, müssen wir das Ausbildungsleben an das Studierendenleben anpassen: Azubi-Tickets, mehr Wohnraum für Auszubildende und mehr Möglichkeiten, während der Ausbildung Erfahrungen im EU-Ausland sammeln zu können.
Denn das Auftragsbuch eines Meisters in Kleve oder Cottbus endet nicht an der deutschen Grenze.
Fachkräftegewinnung von morgen geht aber auch nicht zusammen mit Berufsalltag und Erwerbsbiografien von gestern. Wir wissen, dass etwa die volle Erwerbstätigkeit von beiden Partnern im internationalen Vergleich immer noch geringer ausgeprägt ist, wie sich etwa an der Teilzeitquote zeigt.
Und wir wissen, dass Fachkräfte oft zwar theoretisch bundesweit zu finden, aber oft nicht dort ansässig sind, wo die Unternehmen mit den freien Stellen sie suchen – gerade bei uns in NRW oft genug auch auf dem Land, wo die innovativen mittelständischen Unternehmen sitzen.
Was tun? Digitalisierung und Flexibilität sind die Schlüsselwörter. Wenn etwa ein Unternehmen auf dem Land Fachkräfte aus der Stadt gewinnen will oder wenn Eltern zweimal Vollzeitarbeit unter einen Hut bringen wollen, dann helfen ihnen die heutigen Möglichleiten von mobiler Arbeit und Homeoffice – theoretisch.
Denn sobald es konkret wird und man etwa die Arbeit auf vier Tage verteilen will, um den fünften Tag nicht auch noch pendeln zu müssen, verstößt man gegen das deutsche Arbeitszeitgesetz.
Richtig schwierig wird es dann beim grenzüberschreitenden Arbeiten, selbst in der EU. Da müssen wir ran!
Es ist gut, dass es jetzt eine Mehrheit dafür gibt, per Tarifvertrag mit einem flexibleren Arbeitszeitgesetz zu experimentieren. Noch besser wäre, Unternehmen und Beschäftigte einfach selbst entscheiden zu lassen, was innerhalb der klaren Grenzen der EU-Richtlinie zu ihnen passt.
Wir brauchen auch noch mehr Flexibilität bei Kitas und offener Ganztagsschule. Dabei sollte in den Kernzeiten nicht an hochwertigen pädagogischen Konzepten gerüttelt werden.
Aber in den Randzeiten braucht es auch hier mehr Flexibilität, indem beispielsweise Eltern die Möglichkeit erhalten, betreutes Spielen hinzuzubuchen.
Zudem müssen Kitas und Schulen für Quereinstieg und mehr multifunktionale Teams geöffnet werden. Hier müssen Bildungsgewerkschaften ideologische Dogmen endlich aufgeben.
Klar ist aber auch: Deutschland wird sein Fachkräfteproblem nicht ohne gesteuerte Zuwanderung lösen können. Erste Schritte – wie die in Nordrhein-Westfalen neu geschaffene Zentralstelle Fachkräfteeinwanderung – müssen ausgebaut und zu vollumfänglichen Dienstleistungsagenturen für die Unternehmen werden.
Ausbildungs- und Berufsabschlüsse müssen schnell und unbürokratisch anerkannt, Visa-Verfahren durch massive Personalaufstockung auch an deutschen Botschaften beschleunigt werden.
Aber das reicht nicht. Die Bundesregierung muss jetzt die im Koalitionsvertrag verabredeten Maßnahmen schneller umsetzen und konkret drei Regelungen vorziehen und noch vor der Sommerpause einleiten.
Erstens soll die Blue-Card-Regelung im nationalen Recht auf nichtakademische Berufe erweitert werden, sodass ein konkretes Jobangebot zu marktüblichen Konditionen ausreicht, um legal in den deutschen Arbeitsmarkt einzureisen. Das ist die Grundlage für effektive Jobbörsen von Handwerk, Mittelstand und Industrie in den Herkunftsländern.
Zweitens soll nach kanadischem Vorbild die Chancenkarte mit Punktesystem talentierte Jobsucher aus aller Welt nach Deutschland einladen.
Drittens müssen sämtliche Arbeitsverbote für bereits in Deutschland Lebende sofort fallen. Wir können es uns schlicht nicht leisten, auch nur auf eine helfende Hand zu verzichten.