RÜLKE-Interview: Es ist Zeit, Freiheitsrechte zurückzugeben
FDP-Präsidiumsmitglied und Sprecher der FDP-Fraktionsvorsitzendenkonferenz Hans-Ulrich Rülke gab der „Schwäbischen Zeitung“ (Donnerstag-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte Kara Ballarin.
Frage: Herr Rülke, was vermissen Sie derzeit aufgrund der Einschränkungen am meisten?
Rülke: Persönlich vermisse ich natürlich meinen Freiraum. Ich habe gerne die Möglichkeit, eine Gaststätte zu besuchen, vermisse die direkte Kommunikation mit den Menschen. Und ich vermisse ein wenig den Parlamentsbetrieb, denn ich habe bei manchen Regierungsmitgliedern den Eindruck, dieses lästige Parlament nicht zu vermissen, sondern auf dem Verordnungswege ihre Macht ausbauen zu wollen.
Frage: Sie sind passionierter Tennisspieler. Warum dürfen Sie diesen Distanzsport derzeit nicht ausüben?
Rülke: Das frage ich mich auch. Das habe ich auch den Ministerpräsidenten gefragt. Seine Antwort war, wir hätten in Baden-Württemberg eine schwierigere Lage als im Bund. Er argumentiert ja gerne mit dem Reproduktionsfaktor. Ziel war ja, ihn auf den Faktor 1 zu senken.
Frage: Dass also ein Infizierter nur einen anderen Menschen ansteckt.
Rülke: Genau. Die Lage im Land ist mit dem Wert von zuletzt 0,6 besser als der Bundesdurchschnitt von 0,7. Vor diesem Hintergrund leuchtet es mir nicht ein, warum wir eine restriktivere Politik haben als beispielsweise Rheinland-Pfalz. Deshalb haben wir gefordert, beim Handel die 800- Quadratmeter Grenze zu kippen. Nur etwa zehn Prozent der Läden fallen unter diese Restriktion. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das entscheidend ist. Das Sigmaringer Verwaltungsgericht hat übrigens gerade festgestellt, dass es für größere Läden möglich sein muss, durch Abtrennung entsprechend die Ladenfläche auf 800 Quadratmeter zu verkleinern. Eine wichtige Korrektur der Landesregierung. Wir wollen mehr Gerechtigkeit. Das gilt auch für das Gaststättengewerbe und es gilt für den Vereinsbereich. Wenn die Profis des VfB Stuttgart trainieren dürfen, ist es nicht einsichtig, warum nicht jemand segeln, reiten, Tennis oder Golf spielen darf. Der Ministerpräsident hat ja angekündigt, dass die Leute wieder in den Gottesdienst dürfen. Das müsste man mir mal erklären, was bei einem Tennisspiel gefährlicher ist als bei einem Kirchenbesuch.
Frage: Sie haben in den vergangenen Wochen immer wieder die grünschwarze Landesregierung kritisiert – aber immer nur im Detail. Macht die Regierung in dieser Krisenzeit insgesamt einen guten Job?
Rülke: Wir haben die grundsätzliche Überzeugung mitgetragen, dass in dieser Krise Maßnahmen wie Abstandsgebote und Hygienevorschriften notwendig gewesen sind. Diese Krise hat weite Teile der Wirtschaft in Schwierigkeiten gebracht, sie braucht Unterstützung, deshalb haben wir auch die Neuverschuldung mitgetragen. Aber wir haben an der einen oder anderen Stelle das Regierungshandeln auch kritisch begleitet. Es war etwa geplant, dass Mittelständler private Rücklagen angreifen sollen, bevor sie Soforthilfe bekommen. Nach unserer Kritik wurde das geändert. Der Ministerpräsident hat in der Krise stets den Kontakt zu uns gehalten und hat auf Anregung der Opposition auch nachjustiert.
Frage: Anderen Regierungsmitgliedern werfen sie indes vor, die Krise zu nutzen, um ihre Macht auszubauen. Welche Minister meinen Sie?
Rülke: Innenminister Thomas Strobl hat versucht, die Gemeindeordnung auf dem Verordnungsweg zu ändern. Mit meinem SPD-Kollegen Andreas Stoch haben wir das verhindert, jetzt nehmen die Änderungen den demokratischen Verlauf eines Gesetzes. Sozialminister Manfred Lucha wollte alle Zahnarztpraxen schließen. Da haben wir zumindest erreicht, dass notwendige Eingriffe gemacht werden dürfen.
Frage: Die FDP ist die Partei der persönlichen Freiheitsrechte. Welches Recht wirkt stärker: das Recht auf körperliche Unversehrtheit oder andere Grundrechte wie etwa Versammlungs- oder Religionsfreiheit?
Rülke: Man muss Grundrechte immer gegeneinander abwägen. Wenn in einer Situation wie im März eine erkennbare Bedrohung für das Leben und die körperliche Unversehrtheit von vielen Menschen erkennbar ist, dann ist es durchaus auch gerechtfertigt, Grundrechte wie beispielsweise die Versammlungsfreiheit einzuschränken. Es stimmt aber, was der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier sagt: Nicht das Zurückgeben von Freiheitsrechten ist begründungspflichtig, sondern die Einschränkung. Das würde ich der Bundeskanzlerin gerne ins Stammbuch schreiben. Wer über die Rückgabe von Bürgerrechten diskutiert, feiert keine Orgie. Die Kanzlerin muss begründen, warum sie Freiheitsrechte, die sie eingeschränkt hat, weiter einschränken will. Es ist jetzt die Zeit, den Menschen ihre Freiheitsrechte sukzessive zurückzugeben.
Frage: Haben Sie bei dieser Forderung kein Bauchgrimmen? Was, wenn eine Lockerung dazu führt, dass wir im Herbst eine zweite Corono-Welle erleben?
Rülke: Ich sehe zwei Problemfelder. Das erste betrifft große Massenveranstaltungen. Bisher gab es ja immer Infektionsherde, die zu einer breiten Ansteckung geführt haben: eine Bar in Ischgl, ein Treffen von radikalen Christen im Elsass, ein Fußballspiel in Bergamo. So kann der VfB Stuttgart auf absehbare Zeit nicht vor 50000 Zuschauern Fußball spielen. So lange es keinen Impfstoff gibt, sind Veranstaltungen wie das Oktoberfest nicht möglich.
Frage: Und das zweite Problemfeld?
Rülke: Das ist der Umgang der Bevölkerung untereinander. Da sehe ich deutliche Veränderungen: Menschen halten Abstand, tragen Masken, beachten freiwillig Hygienemaßnahmen. Das sehen wir auch bei den rückläufigen Infektionszahlen. Wir können keinen Shutdown machen, bis es einen Impfstoff gibt.
Frage: Sehen Sie Unterricht ebenfalls als Massenveranstaltung oder sollten die Schulen wieder für alle öffnen?
Rülke: Es geht nicht, Kitas bis zum Sommer geschlossen zu lassen. Ich würde mir wünschen, dass im Laufe des Mais alle Schüler wieder die Schulen besuchen, und nach den Pfingstferien auch die Kitas wieder öffnen.
Frage: Viele Bürger sind derzeit überrascht über die Geschwindigkeit, mit der die Politik Entscheidungen trifft und umsetzt. Warum geht das nicht immer so schnell?
Rülke: Die allermeisten politischen Entscheidungsprozesse sind Abwägungen. Natürlich kann man schnell entscheiden, indem man wenige fragt. Das Sprichwort „Not kennt kein Gebot“ sollte man aber nicht zum Normalfall machen. Denn das würde bedeuten: Kein Parlament, keine Bürgerbeteiligung, nicht mal eine Regierung, es braucht eigentlich nur einen starken Mann. Wir sind mit Blick auf unsere Geschichte aber immer besser gefahren, wenn Entscheidungen nach einer pluralistischen Diskussion gefallen sind, als in den Zeiten, in denen allein ein starker Mann entschieden hat.
Frage: Zuerst dominierte die Klimakrise, jetzt die Coronakrise. Wie schwer ist es für die FDP, mit ihren Themen gehört zu werden?
Rülke: Das ist kein FDP-Phänomen, das Problem haben alle Oppositionsparteien in Bund und Land wie auch die Juniorpartner in den Regierungen. Die Krise ist die Stunde der Exekutive, vor allem die der Regierungschefs und der Fachminister. Als Opposition ist man gut beraten, den Regierungskurs kritisch-konstruktiv zu begleiten – ihn dort mittragen, wo man ihn mittragen kann, an einzelnen Entscheidungen auch mitwirken und Verbesserungen erreichen. Das schlägt sich aber nicht in Umfragen nieder. Unsere Aufgabe wird es sein, in näherer Zukunft die beiden klassischen Themenfelder der FDP, nämlich Bürgerrechte und Wirtschaft, zu bearbeiten. Denn nach der Coronakrise folgt die Wirtschaftskrise.