LINDNER/STAMP-Gastbeitrag: Migrationspolitik aus einem Guss
Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner und der Landesvorsitzende der FDP-NRW und Landesintegrationsminister von Nordrhein-Westfalen Dr. Joachim Stamp schrieben für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ den folgenden Gastbeitrag:
Bei oberflächlicher Betrachtung der Debatten im Deutschland des Jahres 2018 zeigt sich das Bild einer gespaltenen Gesellschaft: Auf der einen Seite Anhänger einer grenzenlosen Willkommenskultur, auf der anderen Seite ressentimentgeladene Wutbürger gegen die offene Gesellschaft. Diese Dichotomie entspricht nicht der Wirklichkeit, wie wir sie in vielen Begegnungen erleben. Aber sie kann dann zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden, wenn wir ihr nicht entschieden genug entgegentreten.
Ja, die Ränder polarisieren. Dazwischen steht jedoch die große Mehrheit der Bevölkerung, die zwar politisch heterogen, aber darin einig ist, dass sie extreme politische Positionen ablehnt. Diese große Mehrheit ist nicht gespalten – aber zutiefst verunsichert. Sie will weder eine Gesinnungsethik der offenen Grenzen, noch pflegt sie völkisch-autoritäre Reinheitsideologien der ethnischen, kulturellen oder religiösen Gleichheit. Sie erwartet eine verantwortungsethische Haltung im Sinne Max Webers. Edle Motive der Hilfsbereitschaft dürfen nicht die praktischen Folgen politischer Entscheidungen ausblenden. In der Praxis sind die Integrationsmöglichkeiten begrenzt. Und neben der völkerrechtlichen Pflicht, Verfolgte zu schützen, gibt es auch das Recht der aufnehmenden Gesellschaft, selbst zu entscheiden, wen sie tatsächlich dauerhaft in ihre Mitte einladen will. Hier fehlt bis heute die Ordnung.
Die Bürgerinnen und Bürger haben dafür ein Gespür. Deshalb hat der Eindruck eines staatlichen Kontrollverlusts in der Flüchtlingskrise 2015 und 2016 zu einer politischen Vertrauenskrise geführt. Zuerst hat Angela Merkels „Wir schaffen das“ die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung mobilisiert, danach wurde sie jedoch ohne ein überzeugendes Konzept alleingelassen. Die Mitte der Gesellschaft bis hin zu den vielen ehrenamtlichen Flüchtlingshelfern klagt darüber.
Wir haben die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin oft und hart kritisiert. Nicht wegen des humanitären Ansatzes, sondern wegen fehlender Systematik, fehlender Koordination in Europa und einer Kommunikation, die international als Generaleinladung nach Deutschland missinterpretiert wurde. Viele Menschen haben bis heute nicht den Eindruck, dass Einwanderung in unser Land nach nachvollziehbaren Kriterien geschieht und konsequent gemanagt wird. Wenn dieser Mangel nicht abgestellt wird, droht ein dauerhafter Schaden für unsere politische Kultur. Das Feld der Einwanderungs- und Asylpolitik zu befrieden wird entscheidend sein für das politische Klima der Gegenwart und auch für die Zukunftschancen unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft.
Es ist dabei töricht zu behaupten, die Migration sei „die Mutter aller Probleme in Deutschland“. Als alternde Gesellschaft sind wir darauf angewiesen, dass qualifizierte Menschen aus anderen Teilen der Welt zu uns kommen. Deutschland muss für Einwanderung offen bleiben. Und als offene Gesellschaft muss es uns dabei egal sein, woher jemand kommt. Entscheidend ist, wohin er mit uns zusammen will. Wir sehen in größerer gesellschaftlicher Vielfalt keine Gefahr, sondern eine Chance für mehr Fortschritt, Freiheit und Wohlstand.
Eine liberale Einwanderungspolitik, wie sie uns vorschwebt, muss auf Kontrolle, klaren Regeln und funktionierendem Management basieren – nicht aber auf kultureller oder ethnischer Abschottung. Oft wird übersehen, dass Fortschritt gerade aus der Abweichung von der gesellschaftlichen Norm entsteht. Traditionelle Einwanderungsländer wie die Vereinigten Staaten oder Kanada haben auch deshalb in vielen Bereichen bedeutende Innovationen hervorgebracht. Der Soziologe Richard Florida untersuchte bereits 2002 in seinem Buch „The Rise of the Creative Class“ den Zusammenhang zwischen Diversität und wirtschaftlichem Wachstum. Er konnte zeigen, dass kreative Entwicklungen und ökonomischer Erfolg umso wahrscheinlicher werden, je stärker drei „Ts“ zusammenfallen: Technologie, Talent und Toleranz.
Es war schon Ende des vergangenen Jahrhunderts ein verhängnisvoller Fehler deutscher Politik, die Realität eines Einwanderungslandes nicht angenommen und notwendige rechtliche und politische Weichenstellungen versäumt zu haben. Denn die Herausforderungen der mit der Migration verbundenen Integration stellen sich ja nicht erst seit 2015, sondern seit Jahrzehnten. Mit der mangelnden Bereitschaft, die dauerhafte Einwanderung der sogenannten Gastarbeiter-Generation anzuerkennen, ging auch eine fehlende Einsicht in die Notwendigkeit zu aktiver Integrationspolitik einher. Neben diese konservative Verweigerungshaltung gesellte sich auf der anderen Seite des politischen Spektrums ein naiver Multikulturalismus, der in jedem Einwanderer a priori eine Bereicherung sah und entsprechend aktive Integrationspolitik als „Zwangsgermanisierung“ diskreditierte.
Diese große Koalition von Verweigerern einer aktiven Integrationspolitik wirkt bis heute nach. Wir beklagen nicht nur eine Verunsicherung der autochthonen Mehrheitsgesellschaft, sondern auch vieler Einwanderer, besonders aber ihrer Kinder und Enkel. Das hat die #MeTwo-Debatte eindrucksvoll gezeigt. Es ist beschämend, dass viele Menschen in einem eigentlich so offenen und toleranten Land Erfahrungen mit Alltagsdiskriminierungen bis hin zum Rassismus machen. Wenn gutausgebildete Menschen seltener zu Bewerbungsgesprächen eingeladen werden, nur weil ihre Eltern oder Großeltern vor Jahrzehnten aus der Türkei gekommen sind, dann widerspricht das dem Gebot der Chancengerechtigkeit. Wissenschaftler der Universität Mannheim fanden heraus, dass Gymnasiallehrer in Mathematik Schüler mit Einwanderungsgeschichte schlechter benoten als autochthone Kinder – auch bei gleicher Sprachfertigkeit, ähnlicher Herkunft und sogar dann, wenn die Kinder in standardisierten Tests gleich gut abschnitten. Bekannt ist, dass Wohnungsbewerber mit ausländisch klingendem Namen seltener eine Zusage von Vermietern bekommen. Das zeigt: Wir sind leider noch nicht die vielfältige, offene Gesellschaft, die wir gerne sein möchten.
Notwendig ist ein grundlegender Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik. Wir brauchen einen demokratischen Grundkonsens über die Frage, wie wir leben und zusammenleben wollen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ein solcher Konsens kann und soll nicht die Differenzen in der offenen Gesellschaft zukleistern. Individualität, Wettbewerb und damit auch Streit sind konstitutiv für ebendiese offene Gesellschaft. Aber entscheidend ist, dass der Streit zivilisiert ausgetragen wird. Dafür brauchen wir Fundament und Leitplanken.
Mit dem Grundgesetz verfügen wir über ein solches Fundament, auf das wir nicht nur stolz sein können, sondern um das uns viele Länder beneiden. Das Grundgesetz begründet jedoch nicht nur unsere Rechtsordnung. Es kann auch identitätsstiftend sein, wenn es endlich gelingt, einen modernen Verfassungspatriotismus zum Leben zu erwecken. Vielfach wird argumentiert, das Grundgesetz sei eine zu nüchterne Angelegenheit, um Identifikation zu ermöglichen. Wir behaupten das Gegenteil: Es ist das Fundament, auf dem jeder in seiner Individualität, mit aller Unterschiedlichkeit, aber mit den gleichen Rechten in unserer Gesellschaft leben kann – ob Mann oder Frau, ob mit Einwanderungsgeschichte oder ohne, unabhängig von sexueller Orientierung oder Handicap. Das Grundgesetz ebnet nicht individuelle und kulturelle Unterschiede ein. Aber es bildet als gemeinsame freiheitliche Verfassung für alle dieselbe Grundlage. Im Bekenntnis zu dieser gemeinsamen Verfassung liegt die Chance zu einem neuen „Wir-Gefühl“, das völkischen Kollektivismus überwindet und stattdessen eine Gemeinschaft in Unterschiedlichkeit auf einem gemeinsamen Grundkonsens manifestiert.
Ein solcher Verfassungspatriotismus entwickelt aber nur Strahlkraft, wenn klar ist, dass der Grundkonsens für alle und ohne Abstriche gilt. Es ist unverantwortlich, bei Gewalttaten mit nichtdeutschen oder eingewanderten Tatverdächtigen zu verallgemeinern und damit Ressentiments zu schüren. Immer wiederkehrende Ausschreitungen gegenüber Migranten bis hin zum Rechtsterrorismus zeigen, dass auch ein Teil der Mehrheitsgesellschaft desintegriert ist und auf den Grundkonsens unserer Republik neu verpflichtet werden muss. Es ist aber auch unverantwortlich, spezifische Kriminalität bestimmter Migranten zu tabuisieren oder kulturell zu relativieren. Wenn ethnisch geprägte kriminelle Banden sich ausbreiten und eine Paralleljustiz etablieren wollen, muss der Rechtsstaat genauso in aller Härte vorgehen wie gegen Terroristen und Gefährder, die die Toleranz der offenen Gesellschaft ausnutzen wollen, um sie zu zerstören.
Wir sehen Deutschland nicht als Volksgemeinschaft, sondern als Republik. Das Grundgesetz basiert auch nicht allein auf christlicher Tradition. Seine Quellen liegen nicht zuletzt in der Aufklärung, dem römischen Recht und der griechischen Demokratie. Wer Religion als politische Kategorie einführt, begibt sich auf einen gefährlichen Pfad. Das gilt nicht nur für den Weg, in bayerischen Amtsstuben zusätzliche Kreuze an die Wand zu hängen, sondern auch für die Politisierung des Islams. Es ist nicht nachvollziehbar, warum die politische Linke, die sich in den fünfziger und sechziger Jahren durchaus zu Recht gegen die Autorität der katholischen Kirche in aller Schärfe gewehrt hat, heute wachsweich ist, wenn es darum geht, dass innerhalb eines Teils des konservativen Islams autoritäre und patriarchale Herrschaftsbilder kultiviert und politisch verbrämt werden. Die Werte des Grundgesetzes gelten für alle, sie müssen aber auch gegenüber allen zur Geltung gebracht werden.
Neben dem Fundament des Grundgesetzes braucht Deutschland endlich ein umfassendes und in sich konsistentes Einwanderungs- und Aufenthaltsgesetzbuch. Es muss widerspruchsfrei und nachvollziehbar sämtliche rechtlichen Regelungen der Migration und Integration umfassen und damit die Leitplanken für die offene Gesellschaft klar definieren. Dabei muss zwischen individuell politisch Verfolgten, Kriegsflüchtlingen und dauerhaften Einwanderern klar unterschieden werden: Wen wollen wir einladen, auf unserem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, wer braucht vorübergehend oder dauerhaft Schutz, und wer erfüllt keines der Kriterien für eine Einreise? Welche Rechte und Pflichten sind mit dem Aufenthalt in Deutschland verbunden, und nach welchen Kriterien kann die deutsche Staatsbürgerschaft erworben werden?
Diese und viele weitere Fragen sind bis heute nicht systematisch genug geregelt. Die komplizierte Rechtslage hat dazu geführt, dass viele Migranten den Weg nach Deutschland über das Asylrecht suchen und das System damit überfordert ist. Darum brauchen wir eine grundsätzliche Neuordnung. Das vorgelegte Eckpunktepapier der Bundesregierung zur Fachkräfteeinwanderung reicht bei weitem nicht aus. Es muss zum einen deutlich ergänzt werden und zum anderen so konzipiert sein, dass es sich in ein umfassendes Gesetzeswerk zu allen Fragen von Migration und Integration integrieren lässt. Natürlich wird die Erarbeitung eines umfassenden Einwanderungs- und Aufenthaltsgesetzbuchs geraume Zeit in Anspruch nehmen. Doch wir dürfen keine Zeit verstreichen lassen und müssen jetzt damit beginnen. Dazu schlagen wir eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe vor, die unmittelbar die Arbeit aufnehmen sollte.
Um keine Zeit zu verlieren, können und müssen schon jetzt Themenkomplexe gelöst werden, die sich auch später konsistent in das gesamte Einwanderungs- und Aufenthaltsgesetzbuch einfügen.
Erstens: Das Grundrecht auf Asyl für individuell politisch Verfolgte steht für uns nicht zur Disposition. Für Kriegsflüchtlinge aber wollen wir einen eigenen Status schaffen, einen vorübergehenden humanitären Schutz, der auf die Dauer des Krieges begrenzt ist. Flüchtlinge sollten nicht durch das Asylverfahren, sondern nach einer Sicherheits- und Identitätsprüfung sofort eine befristete Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis erhalten, bis es in ihrer Heimat wieder sicher ist. Damit könnten wir das bisherige System der Asylverfahren massiv entlasten. Umgekehrt heißt dies aber auch, dass Kriegsflüchtlinge im Regelfall nach Beendigung des Krieges wieder in ihr Heimatland zurückkehren sollen. Wer aber keinen humanitären Schutz erhält, muss unser Land grundsätzlich auch so schnell wie möglich verlassen. Der Familiennachzug muss perspektivisch für alle Migrantengruppen nach den gleichen Kriterien geregelt werden. Von individuellen Härtefällen abgesehen, muss derjenige, der seine Kernfamilie nachholen möchte, den Nachweis erbringen, dass er seine Angehörigen selbst versorgen kann.
Zweitens: Viele Personen, die bei uns Schutz suchen, bleiben für viele Jahre in Deutschland, auch als Geduldete, wenn sie zwar keinen humanitären Schutz erhalten, eine Rückkehr in ihr Heimatland aber aus anderen Gründen nicht möglich ist. Sie arbeiten hier für den Lebensunterhalt von sich und ihren Familien, beziehen keine Sozialleistungen, haben sich nichts zuschulden kommen lassen und die deutsche Sprache gelernt. Dann muss ihre Leistung auch einen Unterschied machen. Deshalb setzen wir uns für einen sogenannten Spurwechsel ein – die Möglichkeit, dass gut integrierte Flüchtlinge den Status von Einwanderern bekommen können. So können wir auch Integrationsanreize setzen für Menschen, die zunächst nur eine begrenzte Bleibeperspektive aus humanitären Gründen haben. Die Voraussetzung für den Spurwechsel ist freilich, dass ohne Abstriche dieselben Anforderungen erfüllt werden, die wir auch an qualifizierte Einwanderer stellen, die sich neu um Aufenthalt in Deutschland bewerben. Hier lässt das Eckpunktepapier der Bundesregierung den notwendigen Mut vermissen.
Drittens: Hilfen zur Integration müssen frühzeitiger, flächendeckender und verbindlicher angeboten werden. Der Schwerpunkt soll auf Sprache, Bildung, Arbeit und einer Wertevermittlung liegen, die als Querschnittsaufgabe alle Integrationsmaßnahmen durchzieht. Integrationskurse müssen nach Vorbildung stärker differenziert und durch digitale Angebote ergänzt werden. Für Flüchtlinge ohne abgeschlossene Berufsausbildung unter 25 Jahren sollen sich verpflichtende Bildungsmaßnahmen anschließen, die die Ausbildungsfähigkeit sicherstellen. Die unterstützenden Mittel des Bundes für Länder und Kommunen dürfen nicht jährlich neu diskutiert, sondern müssen langfristig angelegt werden, damit Integrations-, Bildungs- und Qualifizierungsprogramme auch tatsächlich wirken können.
Viertens: Klar muss dabei immer sein: Dauerhafte Einwanderer wollen wir uns wie jedes andere Einwanderungsland selbst aussuchen. Es ist notwendig, die migrationspolitische Debatte stärker danach auszurichten, wie wir Einwanderung in den Arbeitsmarkt gestalten. Dabei geht uns die Bundesregierung in ihrem Eckpunktepapier nicht weit genug. Wir wollen die existierende Blue Card dahingehend reformieren, dass Nichtakademiker leichter zu uns kommen können, die aufgrund eines mit einem in Deutschland ansässigen Arbeitgeber abgeschlossenen Arbeitsvertrages ihren Lebensunterhalt dauerhaft bestreiten können. Im weltweiten Wettbewerb um die besten Talente wollen wir einen wesentlichen Schritt weiter gehen. Wir brauchen ein Punktesystem, bei dem Menschen aus aller Welt vor dem Hintergrund ihres Bildungsgrades, ihrer Sprachkenntnisse und ihrer beruflichen Qualifikation auch ohne konkretes Arbeitsplatzangebot nach Deutschland kommen können, um sich am Arbeitsmarkt zu bewerben. Dieses wichtige Instrument erfolgreicher Einwanderungsländer fehlt im Konzept der Bundesregierung.
In unserem Konzept erwerben qualifizierte Einwanderer und auch EU-Bürger, die ihr Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit wahrnehmen, Anspruch auf Sozialleistungen erst nach einem Jahr sozialversicherungspflichtiger oder gleichwertiger selbständiger Tätigkeit. Dies ist notwendig, um eine Einwanderung in die Sozialsysteme zu vermeiden. Der gesamte Prozess der qualifizierten Einwanderung soll nicht über das Bundesamt für Migration (Bamf), sondern über die Bundesagentur für Arbeit erfolgen. Die bürokratische Vorrangprüfung wollen wir vollständig abschaffen, das Anerkennungsverfahren für ausländische Berufsabschlüsse vereinfachen und effizienter gestalten, damit qualifizierte Einwanderer entsprechend ihrer tatsächlichen Qualifikation auf unserem Arbeitsmarkt Fuß fassen können.
Fünftens: Die Integration dauerhafter Einwanderer sollte mit der Einbürgerung gekrönt werden. Sie soll gleichermaßen Motivation und Ziel des Einbürgerungsprozesses sein. Die Vermittlung von Werten, aber auch Rechten und Pflichten geht ihr voraus. Wir sollten uns auch dafür öffnen, dass die doppelte Staatsangehörigkeit grundsätzlich möglich ist. Einwanderer müssen zu deutschen Staatsbürgern werden können, ohne ihre Wurzeln und etwa Eigentum in ihrem Herkunftsland aufgeben zu müssen. Für Einbürgerungen muss es dabei weiterhin verbindliche Bedingungen geben. Die doppelte Staatsbürgerschaft soll auch durch Geburt in Deutschland erworben werden können, allerdings bis maximal durch die Enkel der Ersteingebürgerten. In der ersten Generation wird es mehr Doppelpässe als bisher geben, dafür eben nicht auf Dauer.
Sechstens: Asylbewerber und Flüchtlinge sollten innerhalb weniger Wochen wissen, ob sie eine Bleibeberechtigung haben oder nicht. Wir wollen, dass anerkannte Asylbewerber und Kriegsflüchtlinge so schnell wie möglich in den Kommunen integriert und abgelehnte Bewerber nach Möglichkeit direkt aus den Landeseinrichtungen zurückgeführt werden. Dazu bedarf es einer engen Verzahnung aller Akteure, einschließlich der Verwaltungsgerichte. Statt aufwendiger Pilotprojekte sollte der Bundesinnenminister sich darauf konzentrieren, die Länderstrukturen hierbei gezielt zu unterstützen und das Bamf so grundlegend zu reformieren, dass zügige und rechtssichere Entscheidungen erfolgen. Zur Beschleunigung der Verfahren müssen zudem weitere Staaten mit geringer Schutzquote wie etwa Tunesien, Algerien, Marokko und Georgien als sichere Herkunftsstaaten ausgewiesen werden. Dass sich die Grünen hier einer Zustimmung im Bundesrat verweigern, ist unverantwortlich.
Siebtens: Das Rückkehrmanagement muss zukünftig anders aufgestellt werden. Neben einer gezielteren Förderung der freiwilligen Ausreise müssen die Voraussetzungen für Abschiebungen verbessert werden. Häufig scheitern diese an der fehlenden Aufnahmebereitschaft der Herkunftsländer. Hier hat der Bund den Ländern oftmals versprochen, für tragfähige Rückführungsabkommen zu sorgen. In der Praxis wurden die Länder bei der Beschaffung von Passersatzpapieren, bei der Genehmigung von Charterrückführungen und der Einholung diplomatischer Zusicherungen menschenrechtskonformer Behandlung zu oft im Regen stehengelassen. Trotz vollmundiger Ankündigungen hat der derzeitige Bundesinnenminister bisher nichts an dieser Situation verbessert. Das muss sich umgehend ändern.
Das dringende Thema Migration darf nicht wie eine Blendgranate alle anderen Fragen verdrängen. Es sollte daher einen deutschen Migrationsgipfel von Bund, Ländern und Gemeinden geben, um die offensichtlichen Mängel im Management zu beheben und einen Migrationskonsens unter den staatstragenden Parteien zu ermöglichen, der im Zweifel länger als eine einzelne Wahlperiode hält. Dies ist nötig, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Migrationspolitik wiederherzustellen. Und er ist auch nötig, damit wir uns schnell wieder wichtigen Themen zuwenden können, zum Beispiel der Frage, wie wir unseren Wohlstand in Zeiten wachsender internationaler Konkurrenz sichern können. Wir schlagen vor, dass dieser Migrationsgipfel vierteljährlich tagt, in enger Abstimmung zu der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Erarbeitung des Einwanderungs- und Aufenthaltsgesetzbuches steht und so lange zusammentritt, bis das gesamte Regelwerk in Kraft tritt.
Natürlich wird sich die Migrationsfrage nicht allein national lösen lassen. Nur wer die Außengrenze der Europäischen Union effektiv schützt, wird innerhalb Europas auf Grenzen verzichten können. Allen Lippenbekenntnissen zum Trotz fehlt nach wie vor eine gut ausgestattete europäische Grenzpolizei. Mit der faktischen Aufhebung des Dublin-Abkommens ist Europa seit 2015 in einen Zustand der Regellosigkeit eingetreten, der immer noch nicht wirklich überwunden wurde. Auf Dauer brauchen wir auch ein gemeinsames europäisches Asylsystem. Wir sehen uns hier in einem Schulterschluss mit den Liberalen in Frankreich, in den Niederlanden oder in Dänemark. Paradoxerweise aber könnte der Weg zu einer europäischen Lösung über eine Rückkehr Deutschlands zur konsequenten Anwendung der alten Dublin-Regeln führen. So unvollkommen und überholt die alten Regeln von Dublin auch sind, so sind nichtzeitgemäße Bestimmungen immer noch besser als gar keine. Deutschland übernimmt die Hauptlast der Migration. Erst wenn dies beendet wird, ist eine Einigungsbereitschaft von unseren Partnern zu erwarten. Einen ersten wichtigen Schritt sehen wir darin, Dublin-Überstellungen dahingehend zu beschleunigen, dass sie nur noch der Ankündigung des abgebenden Staates bedürfen und nicht mehr der Zustimmung des aufnehmenden Landes. Dies brächte spürbare Entlastung.
Nicht zuletzt sollten wir aufhören, über einen Kontinent wie Afrika allein als Problemzone zu sprechen. Es gibt dort Länder, deren Entwicklung ermutigend ist. Mit einer werteorientierten Politik, die auf Rechtsstaatlichkeit, gute Regierungsführung und soziale Marktwirtschaft setzt, kann Afrika zum Chancenkontinent werden. Die Richtung, in die sich Afrika entwickelt, darf nicht allein von einem Akteur wie China abhängen, der eine ganz eigene Agenda verfolgt. Afrika mit marktwirtschaftlichen Mitteln zu entwickeln bietet die große Chance, den Menschen dort Perspektiven zu geben und gleichzeitig Migrationsbewegungen einzudämmen. Die Möglichkeiten, die sich gerade auch für afrikanische Länder durch Innovationen, Digitalisierung und neue Technologien bieten, sind längst noch nicht ausgeschöpft.
Die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sind in ihrer großen Mehrheit weltoffen. Aber sie erwarten von der Politik eine klare, verantwortungsethische Haltung und eine geordnete Migrations- und Integrationspolitik statt dauernden Streit über Nebensächlichkeiten. Die Freien Demokraten haben als Programmpartei in ihrer Geschichte oft Minderheitenpositionen vertreten. In diesem Fall sind wir aufgrund vieler Gespräche mit den Bürgerinnen und Bürgern – auch weit über die Parteigrenzen hinaus – der festen Überzeugung, dass unsere Haltung von der Mehrheit der Gesellschaft geteilt wird. Wir laden unsere demokratischen Wettbewerber ein, sich vom parteitaktischen Klein-Klein zu lösen, um dieses wichtige Themenfeld im Sinne der großen Mitte unserer Gesellschaft endlich geordnet zu gestalten.