LINDNER-Interview: Wir brauchen ein Dynamisierungspaket, um Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit zu stärken
Der FDP-Bundesvorsitzende und Bundesminister der Finanzen Christian Lindner gab dem „Handelsblatt“ (Dienstag-Ausgabe) und „Handelsblatt Online“ das folgende Interview. Die Fragen stellte Martin Greive:
Frage: Herr Lindner, Ihr Kollege Herr Habeck will die Unternehmenssteuern senken. Das müsste für Sie doch ein Grund zum Jubel sein, oder?
Lindner: Ganz so hat er es nicht gesagt. Er hat im Bundestag vorgeschlagen, potenziell Hunderte Milliarden Euro Schulden aufzunehmen, damit danach die Politik den Unternehmen Subventionen zahlen kann. Richtig ist aber, dass Robert Habeck und ich dieselbe Analyse haben. Deutschland fällt zurück, weil das Wachstum ausbleibt. Der Standort ist nicht mehr wettbewerbsfähig. Eine Schuldenpolitik ist aber ökonomisch nicht sinnvoll.
Frage: Robert Habeck findet schon.
Lindner: Wir zahlen hohe Zinsen für Staatsverschuldung. Wir würden unseren Haushalt rasch strangulieren. Tatsächlich halte ich es auch nicht für erfolgversprechend, wenn die Politik entscheidet, welche Branche, welche Technologie und welches Unternehmen eine Zukunft haben soll, indem dort dann Subventionen gewährt werden. Wir müssen die Standortbedingungen für alle verbessern. Nur im marktwirtschaftlichen Wettbewerb bilden sich dauerhaft starke Strukturen.
Frage: Wenn Sie aber offenbar so weit auseinanderliegen, ist die Diskussion also nur heiße Luft?
Lindner: Das Gesprächsangebot von Robert Habeck begrüße ich absolut. Diese Standortdebatte ist überfällig. Tatsächlich darf dieser Vorstoß nicht folgenlos bleiben. Man stelle sich vor: Der Wirtschafts- und der Finanzminister gelangen beide zu der Erkenntnis, Deutschland ist nicht mehr ausreichend wettbewerbsfähig. Es ist unvorstellbar, dass dies nicht zu politischen Veränderungen führt.
Frage: Was muss denn passieren?
Lindner: Wir brauchen ein Dynamisierungspaket. Wir müssen alles unternehmen, um Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Andererseits sollten wir alles unterlassen, was Dynamik kostet.
Frage: Nur haben Sie kein Geld, wenn Sie die Schuldenbremse einhalten wollen.
Lindner: Umgekehrt fehlen uns die Mittel für soziale und ökologische Vorhaben, wenn das wirtschaftliche Fundament nicht stimmt. Tatsächlich gibt es Wirtschaftsförderung ohne Geld. Das Konzept hat einen Namen: Soziale Marktwirtschaft. Bei der Arbeitsmarktflexibilität können wir besser werden. Wir können Bürokratieabbau wagen, der damit beginnt, nicht zusätzlich noch diese EU-Lieferkettenrichtlinie zu beschließen. Wir müssen den Klimaschutz marktwirtschaftlicher gestalten, um CO2-Vermeidungskosten zu reduzieren. Wir müssen in der Energiepolitik die Möglichkeiten nutzen, das Preisniveau bezahlbar zu halten. Und natürlich müssen wir auch das Steuersystem wettbewerbsfähig machen.
Frage: Steuersenkungen aber würden Geld kosten.
Lindner: Ja, aber Steuerentlastung ist eine Investition, die sich mittelfristig auszahlt. Gerade verhandeln wir mit den Ländern über das Wachstumschancengesetz, das Impulse für private Investitionen und Forschung enthält. Es hat sich dabei gezeigt, dass die Länder größere Entlastungsvolumina nicht mittragen. Deshalb wäre allein ein Auslaufen des Solidaritätszuschlags eine realistische Reaktion auf die steuerliche Standortanalyse, die Robert Habeck und ich teilen. Hier werden ja Länder und Gemeinden nicht mit in Anspruch genommen.
Frage: Und wie wollen Sie das gegenfinanzieren?
Lindner: Das wäre in der Koalition zu besprechen. Klar ist aber, dass jede Steuerentlastung die haushaltspolitischen Zwänge vergrößert. Es steht uns ohnehin ein Kraftakt bevor, von dem ich glaube, dass er ohne sinnvolle Alternative ist. Wenn wir eigentlich eine Reformagenda brauchen, aber wegen mangelndem Mut oder fehlender Entschlossenheit nichts tun, würde Deutschland ärmer. Das könnte eine Regierung nicht verantworten.
Frage: Die Gegenfinanzierung eines Soli-Abbaus würde Kürzungen im 20-fachen Ausmaß der Einschnitte für Landwirte bedeuten. Hält das Land das aus?
Lindner: Wir sollten die Menschen nicht überfordern, aber auch nicht unterschätzen. Viele spüren, dass unser Wohlstand keine Selbstverständlichkeit ist. Ich bin überzeugt, dass wir Möglichkeiten haben, die wir teilweise ja schon auf den Weg gebracht haben. Die neue Realpolitik beim Thema Migration beispielsweise wird die Kosten irregulärer Einwanderung reduzieren. Und eine fordernde Arbeitsmarktpolitik reduziert nicht nur Kosten, sondern schafft auch Lebenschancen. Nebenbei war es eine Gerechtigkeitsfrage, klarzustellen, dass es kein Wahlrecht gibt, ob man arbeitet oder nicht arbeitet. Wir müssen für eine neue Wachstumsagenda hart arbeiten.
Frage: Setzen Sie sich jetzt mit Habeck an einen Tisch und schreiben eine neue Agenda 2010?
Lindner: Wir haben bereits Arbeitsprozesse. So legt die Regierung in Kürze ihren Jahreswirtschaftsbericht vor. Durch die Debatte ist dieser Vorgang politisch aufgewertet. Mein Ministerium arbeitet zudem an einem Pendant zur französischen Tibi-Initiative, um privates Kapital zu mobilisieren. Mitte des Jahres legt eine Expertengruppe auch Vorschläge für eine Unternehmenssteuerreform vor.
Frage: Auch die Wirtschaftsweisen fordern eine Lockerung der Schuldenbremse. Fühlen Sie sich langsam einsam in der Debatte?
Lindner: Umfragen unter Wirtschaftswissenschaftlern zeigen viel Unterstützung für die Selbstbindung des Staats an Fiskalregeln. Auch die CDU/CSU-Fraktion ist nicht bereit, eine Änderung bei der Schuldenbremse mitzugehen, wenngleich CDU-Ministerpräsidenten drängen. Ich warne davor, die Büchse der Pandora zu öffnen. Es bleibt nach einer Lockerung nicht bei kosmetischen Änderungen. Würden wir eine Fiskalpolitik machen wie die USA, könnte sich der Zinstitel im Bundeshaushalt in nicht ferner Zukunft verdoppeln.
Frage: Wenn Deutschland die Schuldenbremse einhält, sinkt der Schuldenstand auf nahe 30 Prozent. Macht das Sinn?
Lindner: Davon sind wir weit entfernt. Seit ich im Amt bin, ist die Schuldenquote zwar von 69 Prozent auf 64 Prozent gesunken. Vor der Pandemie betrug sie unter 60 Prozent. Der wahre Schuldenstand unseres Landes ist aber verdeckt durch die Anwartschaften in den Sozialversicherungen. Wir sind eine alternde Gesellschaft mit wenig Wachstum und Produktivitätsfortschritt. Das hat negative Auswirkungen auf die Schuldentragfähigkeit.
Frage: Trotzdem bleibt wie bei einer kursierenden Streichliste der Bahn haften: Die Schuldenbremse bremst die Modernisierung des Landes.
Lindner: Diese Debatte hat sich vollkommen von den Realitäten entfernt. Wir investieren auf Rekordniveau. Auch die Bahn hat noch niemals so viele Mittel zugesagt bekommen wie jetzt. Man kann zudem öffentliche Investitionen bei begrenzten Kapazitäten der Volkswirtschaft nicht beliebig weit ausdehnen, ohne private Vorhaben zu verdrängen und die Preise zu treiben.
Frage: Das Ausland blickt inzwischen mit großer Sorge auf Deutschland. Braucht es nicht einen großen wirtschaftspolitischen Wumms, allein um eine Symbolwirkung zu erzeugen?
Lindner: Es geht nicht mehr um Symbole, sondern um Substanz. Man wartet förmlich darauf, dass Deutschland seine Tugenden wie Leistungsdenken, Unternehmertum und Anpassungsfähigkeit mobilisiert. Wenn ich mit internationalen Investoren rede, spielt aktuell allerdings ein anderes Thema die Hauptrolle.
Frage: Und zwar?
Lindner: Die AfD. Investoren fragen, ob sie davon ausgehen können, dass die AfD nicht in Regierungsverantwortung kommt. Bei der Bewerbung um die Europäische Geldwäschebehörde in Frankfurt wurde ich nach der AfD gefragt. Wenn es um Ansiedlung von Unternehmen in Ostdeutschland geht, dann gibt es die Sorge, dass man Talente nicht dorthin rekrutieren kann, wo die AfD stark ist. Die AfD ist ein Standortrisiko geworden.
Frage: Haben die Massendemonstrationen gegen die AfD Konsequenzen für die Ampelpolitik?
Lindner: Meine Grundüberzeugung hat sich nicht geändert. Wir müssen die Probleme klein machen, die die AfD groß gemacht haben. Gerade in der Migrations- und Arbeitsmarktpolitik sind die Erwartungen groß. Wir müssen ein Signal setzen für das Einfordern von Gegenleistungen für Solidarität. Und wir schauen nicht tatenlos zu, wenn Einwanderung in unseren Sozialstaat stattfindet, ohne dass damit der Gedanke an Erwerbstätigkeit verbunden ist.
Frage: Die Verteilungskämpfe in den neuen Haushaltsberatungen werden noch härter. Im neuen Budget fehlen 40 Milliarden, korrekt?
Lindner: Nein, das konkretisiert sich erst nach der Steuerschätzung. Klar ist, es fehlt ein Betrag im unteren zweistelligen Milliardenbereich.
Frage: Also werden die neuen Haushaltsverhandlungen ein noch größeres Hauen und Stechen?
Lindner: Die Aufgabe ist größer, das stimmt. Wir müssen umschichten von alten Strukturen und Ausgaben hin zu Zukunftsaufgaben wie Bildung, Digitalisierung und Wachstumspolitik. Und, klar: Wenn es keine Mehrheit für eine Grundgesetzänderung zur Reform der Schuldenbremse, wenn es keine Mehrheiten für Steuererhöhungen gibt, die SPD und Grüne zwar fordern, die aber selbst laut Robert Habeck in der augenblicklichen Lage nicht angezeigt sind, werden es intensive Gespräche werden.