LINDNER-Interview: EU-Gemeinschaftsschulden würden Finanzstabilität und demokratische Akzeptanz gefährden
Der FDP-Bundesvorsitzende und Bundesminister der Finanzen Christian Lindner MdB gab „focus.de“ das folgende Interview. Die Fragen stellte Hans-Jürgen Moritz:
Frage: Herr Lindner, fühlen Sie sich als Relikt, als Mann von gestern?
Lindner: Nein. Warum?
Frage: Weil Sie so ziemlich der Einzige zu sein scheinen, der in der Ampel noch an der Schuldenbremse festhalten will.
Lindner: In der Tat gibt es den starken Wunsch nach mehr Schulden. Bei SPD und Grünen war das bekannt, bei CDU-Politikern wie dem Regierenden Bürgermeister von Berlin ist es eine betrübliche Neuigkeit. Es ist aber ökonomisch nicht sinnvoll, weil wir hohe Zinsen zahlen. Statt zukünftig mehr Geld der Steuerzahler für Zinsen zu verwenden, investiere ich lieber direkt zum Beispiel in Schulen. In dieser Haltung fühle ich mich von einer Mehrheit der Bürger unterstützt.
Frage: Die Pro-Kopf-Schuldenlast der Bundesbürger durch staatliche Verbindlichkeiten hat inzwischen für jeden Einzelnen nahezu 30.000 Euro erreicht, der Bund der Steuerzahler moniert ein zunehmendes Verschuldungstempo. Wirkt die Bremse überhaupt noch?
Lindner: Entscheidend ist das Verhältnis von Schulden zu Wirtschaftskraft des Landes. Als ich ins Amt kam, betrug diese Schuldenquote 69 Prozent. Jetzt sind wir bei 64 Prozent. Die Richtung stimmt. Wenn wir weiter diszipliniert sind, dann haben wir bald das Vor-Corona-Niveau erreicht.
Frage: Und dann kann wieder zugelangt werden?
Lindner: Bei unter 60 Prozent habe auch ich Vorschläge, wie wir mehr finanziellen Spielraum erhalten. Konkret gesagt: Wenn wir jetzt nicht immer mehr Schulden machen, dann können wir uns jedes Jahr gut zehn Milliarden Euro bei der Tilgung der Corona-Schulden ersparen. Geld, das dann für neue Schwerpunkte zur Verfügung steht.
Frage: Für den Bundeshaushalt 2025 fehlen zwischen 15 und 30 Milliarden Euro, so liest man. Wie groß ist die Lücke wirklich?
Lindner: Ich nenne keine amtliche Zahl für den Handlungsbedarf. Nur eine Minderheit der Ministerien hat sich nicht an die Absprachen und Beschlüsse gehalten, dafür aber mit hohen Summen. Deshalb kann ich deren Mehrforderungen im Interesse aller nicht als Geschäftsgrundlage nehmen.
Frage: Sie beziehen sich damit auf die Ressorts Außen, Innen, Verteidigung und Entwicklungshilfe, die nicht einsparen wollen, sondern im Gegenteil mehr Geld verlangen.
Lindner: Diese Ressorts sind mit ihren Mehrforderungen selbst an die Öffentlichkeit gegangen. Für mich ist aber klar, dass wir Prioritäten setzen müssen. Für mich ist es erstens die Wirtschaftswende, damit wir wieder Wachstum haben und uns so auch zukünftig soziale und ökologische Vorhaben leisten können. Zweitens Investitionen in Bildung, Digitalisierung und Infrastruktur. Drittens die Landes- und Bündnisverteidigung.
Frage: Kann die Koalition über den Haushaltsstreit platzen?
Lindner: Eine Regierung braucht einen Haushalt. Und angesichts der Wachstumsschwäche kommt noch die Notwendigkeit dazu, unsere Wirtschaft wieder auf Kurs zu bringen.
Frage: Welche Spar-Grausamkeiten sind zu erwarten?
Lindner: Das Wort Grausamkeit weise ich zurück. Wir geben wesentlich mehr Geld aus als 2019. Alleine für Soziales 42 Milliarden Euro im Jahr mehr als vor fünf Jahren. Das zeigt klar, dass wir ein Ausgabeproblem haben. Die Menschen können gar nicht so schnell Wohlstand erwirtschaften, wie manche das Geld verteilen wollen. Deshalb ist nun Umsteuern angesagt.
Frage: Das bedeutet: sparen. Und das kann weh tun – auch wenn sie das Wort „Grausamkeiten“ zurückweisen.
Lindner: Deutschland ist die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt, aber wir sind der zweitgrößte Geber für internationale Projekte. Kein anderes G7-Land machte letztes Jahr bezogen auf die Wirtschaftsgröße so viel wie wir. Das kann nicht fortgesetzt werden, weil wir uns auf harte Sicherheit und die Unterstützung der Ukraine konzentrieren müssen. Außerdem werden wir die Treffsicherheit des Sozialstaats diskutieren. Wir müssen mehr Menschen aus dem Bürgergeld in Arbeit bringen. Wir können nicht tolerieren, wenn Leistungsbezieher das Bürgergeld angebotenen Jobs vorziehen.
Frage: Haben Sie die Befürchtung, wieder als „Partei der sozialen Kälte“ dazustehen, wenn Sie in Sozialleistungen einschneiden wollen?
Lindner: Im Gegenteil, soziale Gerechtigkeit hat zwei Seiten. Einerseits Solidarität mit Bedürftigen. Niemand soll nach einem Schicksalsschlag ins Bodenlose fallen. Andererseits sollte jeder Solidarität nur so lange und so weit wie nötig in Anspruch nehmen. Vergessen wir bitte nie, dass jede Sozialleistung des Staates dadurch finanziert wird, dass jemand von seinem erarbeiteten Einkommen etwas abgibt.
Frage: Wie steht es um die Ukraine-Hilfe und den Verteidigungshaushalt? Sind die für Sie unantastbar?
Lindner: Angesichts der russischen Aggression ist die Ukraine unsere erste Verteidigungslinie. Wir müssen gleichzeitig unsere eigene Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung stärken. Ich bezweifele, dass in den letzten 25 Jahren ein Finanzminister mehr für die Bundeswehr ermöglicht hat als ich. Beispielsweise geht ja auf meine Initiative das Sonderprogramm von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr zurück.
Frage: Die Europawahl steht bevor, auch in Brüssel möchte man gerne noch mehr Geld ausgeben. Wie schätzen Sie die dortigen Begehrlichkeiten ein?
Lindner: Wir brauchen ein starkes Europa dort, wo wir national keine Lösung erreichen. Binnenmarkt, Handelspolitik, Kontrolle der Migration sind für mich europäische Aufgaben. Aber wir brauchen nicht immer mehr kleinteilige Bürokratie. Gegen die kämpfen wir, wie man bei der Lieferketterichtlinie gesehen hat. Wir konnten sie immerhin verbessern, wenn auch leider nicht komplett umbauen. Was wir zudem nicht brauchen, das sind neue Gemeinschaftsschulden in der EU, die jüngst EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wieder angesprochen hat.
Frage: Was hat Ihnen da missfallen?
Lindner: Jeder EU-Mitgliedstaat muss für die eigenen Staatsfinanzen verantwortlich bleiben. Mit Gemeinschaftsschulden würden die Steuerzahler in Deutschland für die Politik anderswo in Haftung genommen. Das gefährdet nicht nur die Finanzstabilität, sondern auch die demokratische Akzeptanz.
Frage: Die EU hat für die Wiederaufbauhilfe nach der Corona-Pandemie bereits ein altes Tabu gebrochen und erstmals in größerem Umfang Schulden aufgenommen…
Lindner: Das war eindeutig als einmalige Maßnahme gekennzeichnet und an Reformanstrengungen gebunden worden. Der damalige niederländische Ministerpräsident Mark Rutte, ein Liberaler, hatte gegen CDU und SPD in Deutschland einen großen Verhandlungserfolg errungen.
Frage: Sie wirken nicht allzu zufrieden mit der bisherigen Arbeit von Frau von der Leyen.
Lindner: Bei allem persönlichen Respekt: Wenn ich die politischen Inhalte bewerte, dann hat Frau von der Leyen nicht als deutsche CDU-Politikerin die Kommission geführt, sondern wie eine Grüne. Ohne Ende Verbote wie zum Beispiel für den Verbrennungsmotor, für die Hausbesitzer teure Auflagen wie Sanierungspflichten für Gebäude, immer neue Ideen für Schulden. Wir konnten davon mit viel Arbeit einiges abschwächen. Aber besser wäre eine EU-Kommission, die sich auf Freiheit, Wettbewerbsfähigkeit und Innovation konzentriert.
Frage: Wie bauen Sie denn selbst in Ihrem Ressort Bürokratie ab? Das deutsche Steuerrecht gilt als eines der unübersichtlichsten der Welt.
Lindner: Wir kommen jedes Jahr voran. Denken Sie an die Steuerfreiheit für die private Solaranlage auf dem Dach, die vereinfachte Berechnung des häuslichen Arbeitsplatzes und anderes. Jetzt kommt das Mobilitätsbudget für Arbeitnehmer bei der Lohnsteuer. Meine Vision ist die nahezu automatisierte Steuererklärung online, per App; Zeitaufwand: unter eine Stunde, unter Einbeziehung Künstlicher Intelligenz.
Frage: Angesichts der bisherigen sehr bescheidenen Erfolge des Online-Zugangsgesetzes bin ich nicht sehr zuversichtlich, dass ich zu meinen Lebzeiten noch in diesen Genuss komme…
Lindner: Sie machen auf mich einen fitten Eindruck. Spaß beiseite, Systemwechsel gehen nicht von heute auf morgen. Aber zu lange sollte es nicht mehr dauern.
Frage: Kommen wir zurück zur Europawahl und dem Schicksal von Frau von der Leyen, das könnte auch nicht sehr spaßig werden. Darf sie auf die Stimmen der FDP-Europaabgeordneten zählen, wenn sie sich nach der Europawahl erneut an die Spitze der EU-Kommission wählen lassen will?
Lindner: Das kommt auf die Inhalte an. Momentan wirkt es so, als werbe Frau von der Leyen weniger um bürgerliche Wähler in Deutschland, sondern um die französische und italienische Regierung.
Frage: Wenn von der Leyen scheitert, dürfen laut Ihrem Ampel-Koalitionsvertrag die deutschen Grünen einen Kommissar oder eine Kommissarin stellen. Wollen Sie wirklich dem grünen Europa-Experten Anton Hofreiter den Weg nach Brüssel ebnen?
Lindner: Das ist ein Märchen der CDU. Im Koalitionsvertrag stehen keine Namen. Und über eine so wichtige Personalie wird noch intensiv beraten werden.
Frage: Wen wollen Sie denn statt Ursula von der Leyen noch schnell aus dem Hut zaubern?
Lindner: Mich stört, dass die Bestätigung von Frau von der Leyen bereits vor der Wahl als Selbstläufer betrachtet wird. Sie ist es nicht. Denn die Bürgerinnen und Bürger müssen die Richtung noch vorgeben, dann werden Rat und Parlament entscheiden. Was Deutschland macht, wird man im Lichte der Ergebnisse sehen.
Frage: Was sehen Sie als vorrangige Aufgaben der EU nach der Wahl?
Lindner: Wettbewerbsfähigkeit. Wirtschaftliche Stärke ist ein Faktor der Geopolitik mit Blick auf Russland und China. Und wir müssen bei Steuerung und Kontrolle der Migration dran bleiben.