LINDNER-Interview: Es geht nicht um das Wohlbefinden von Parteipolitikern, sondern unser Land
Der FDP-Bundesvorsitzende und Bundesminister der Finanzen Christian Lindner gab „Table Berlin“ das folgende Interview. Die Fragen stellten Stefan Braun und Daniel Schmidthäussler:
Frage: Herr Lindner, Sie haben vor kurzem gesagt, Sie wünschten sich mehr Unaufgeregtheit. Was ist so mühsam an der Politik?
Lindner: Mühsam ist nicht mein Wort. Aber wir haben es zugleich mit einer Abfolge von Krisen zu tun und einem Modernisierungsstau, den wir auflösen müssen. Es sind notwendige Reaktionen auf Herausforderungen von außen und die Hypothek von nicht getroffenen Entscheidungen früherer Jahre. Das macht mitunter atemlos.
Frage: Welchen Anteil haben Sie selbst an der Atemlosigkeit?
Lindner: Ich arbeite in längeren Linien und auf der Basis von Grundüberzeugungen. Das macht, denke ich, berechenbar. Allerdings sind damit auch Konflikte verbunden, wenn Werte wie die Freiheit von anderen infrage gestellt werden.
Frage: Was ist für einen Finanzminister einfacher, Ja sagen oder Nein sagen?
Lindner: Das Ja-Sagen ist natürlich der einfachere Weg. Wer liest gerne über sich, er sei ein Kinderhasser, nur weil man nicht sofort eine neue milliardenschwere Sozialleistung ins Schaufenster stellt, deren Nutzen erst einmal nachgewiesen werden müsste? Wer macht das gerne? Aber ich scheue es auch nicht.
Frage: Der aktuelle Stopp des Gebäudeenergiegesetzes ist ein fast schon einmaliger Vorgang. Wieso setzen Sie die Koalition aufs Spiel, statt nach dem Struck’schen Gesetz die Details im Parlament zu verhandeln?
Lindner: Ihre Frage enthält so viele gefärbte Urteile, dass eine sinnvolle Antwort schwerfällt. Jedenfalls ist der Gesetzentwurf im Parlament und dort werden die Details beraten.
Frage: Es bleibt die größtmögliche Provokation zwischen Koalitionspartnern.
Lindner: Nein. Aber es geht auch nicht um das Wohlbefinden von Parteipolitikern, sondern um unser Land. Ich habe zur Kenntnis genommen, dass der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg den Zeitplan und das Inkrafttreten des Heizungsgesetzes infrage stellt. Der SPD-Fraktionsvorsitzende fordert weitgehende Änderungen in Richtung Technologieoffenheit. Beide haben übrigens gute Gründe, wie ich finde. Die Grünen im Bundestag fordern eine ganz andere Fördersystematik, als Bauministerin Geywitz sie vorgeschlagen hatte. Das überzeugt mich dagegen nicht. Wir sind jedenfalls nicht allein mit den Bedenken, ob das Heizungsgesetz bereits dem Gemeinwohl dient. Es geht darum, Klimaschutz mit wirtschaftlicher Vernunft und physikalischer Machbarkeit zu verbinden.
Frage: Trotzdem gelten Sie als Verhinderungspolitiker. Gefällt Ihnen das?
Lindner: Gelte ich denn so? Wem? Das ist eine Behauptung. Ich jedenfalls bin dankbar, dass wir zur Schuldenbremse zurückkehren, mit dem Inflationsausgleichsgesetz Millionen Menschen entlastet haben, Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigen, und eine moderne Gesellschaftspolitik beschreiben. Dass wir Steuererhöhungen und ein Verbot des Verbrennungsmotors verhindert haben, dafür lasse ich mich von unseren Wettbewerbern gerne kritisieren.
Frage: Für Sie ist die Gefahr trotzdem groß, dass am Ende hängen bleibt: die FDP bremst, verhindert, blockiert. Und das wegen Wärmepumpen.
Lindner: Das sehe ich anders. Warten Sie die Bundestagswahl 2025 ab. Wenn die FDP linke Politik und wirtschaftlich unvernünftige Lösungen verhindert, dann stärkt das unser Land. Darauf lasse ich die FDP aber nicht reduzieren. Wir haben viele inhaltliche Reformanliegen. Nehmen Sie nur die Einwanderungspolitik. Zu lange hat es Deutschland denen zu schwer gemacht, die in unseren Arbeitsmarkt einwandern wollen. Und Deutschland hat es denen zu leicht gemacht, die irregulär kommen, um unseren Sozialstaat zu nutzen. Das kehren wir um. Oder die Bildungspolitik, wo wir mit Talentschulen in Stadtteilen mit sozialen Aufgaben die Bildungs- und Aufstiegschancen verbessern wollen.
Frage: Wo betreibt die FDP offensiv Klimaschutz?
Lindner: Wir wollen, dass CO₂ zu einem knappen und handelbaren Gut wird. Das wäre volkswirtschaftlich der effektivste Weg, Klimaziele zu erreichen.
Frage: Haben Sie nicht genau einen solchen Vorschlag auf dem Parteitag gebremst?
Lindner: Nein, im Gegenteil. Der Parteitag hat dies sogar beschlossen. Wir wollen Klimaschutz schnellstmöglich marktwirtschaftlich angehen. Deshalb wird auch nach Koalitionsbeschluss das planwirtschaftliche Klimaschutzgesetz der Vorgängerregierung neu gestaltet. Der CO₂-Handel wird also das zentrale Instrument. Und was wir einnehmen aus dem CO₂-Bepreisungsmodell, das wollen wir zurückgeben. Wir werden voraussichtlich zum Ende des nächsten Jahres technisch dazu in der Lage sein und damit Neuland in Deutschland betreten, indem wir direkt an die Menschen, an eine Steuernummer mit IBAN verbunden, eine Zahlung leisten können. Wenn der Klima- und Transformationsfonds nicht mit so vielen Subventionen belastet wäre, könnten wir jährlich über 200 Euro pro Kopf ausschütten. Umgekehrt kann man sagen, dass die ganzen Subventionen jede vierköpfige Familie 800 Euro im Jahr kosten.
Frage: Was sagen Sie denen, die das nur als Versuch werten, den Klimaschutz wieder in die Zukunft zu verschieben? Nach dem Motto: Geht halt nicht so schnell.
Lindner: Den Vorwurf würde man dem führenden Klimaforscher Ottmar Edenhofer nicht machen. Er hat aber dieselbe Position.
Frage: Zum aktuellen politischen Klima trägt auch die Rhetorik bei. Der energiepolitische Sprecher der FDP-Fraktion spricht von einem Heizungsverbot. Befeuern Sie damit nicht eine Stimmung, die das Bemühen der Koalition vergiftet? Wie die AfD es will.
Lindner: Nein. Man muss sagen, was ist.
Frage: Einspruch. Es wird etwas behauptet, was in dieser Vereinfachung nicht stimmt. Stört Sie das nicht?
Lindner: Einspruch abgelehnt. De facto würden bestimmte Technologien in der Praxis keine Chance haben, obwohl sie de jure noch möglich wären. Ich lade Sie ein, demnächst Ihre Maßstäbe an Äußerungen anderer gegenüber FDP-Anliegen anzulegen.
Frage: Was werden Sie unternehmen, damit die Koalition an diesem Streit nicht zerbricht?
Lindner: Das ist eine unrealistische Überdramatisierung.
Frage: Robert Habeck musste gerade wegen möglicher Interessenskonflikte seinen Staatssekretär entlassen. Empfanden Sie Genugtuung? Oder dachten Sie sich: Gottseidank muss ich nicht meinen wichtigsten Mann feuern?
Lindner: Weder noch. Sie gehen von falschen Vorstellungen aus, wie die Bundesregierung zusammenarbeitet und was mein Gefühlsleben ist. Mir sind Häme und Neid grundsätzlich fremd.
Frage: Sie haben auf dem Parteitag erklärt, Ihr Ziel sei eine nicht-linke Politik. Was meinen Sie damit?
Lindner: Die Mitte ist ein Ort des Common Sense: praktische Vernunft, wirtschaftliche Tragfähigkeit, Akzeptanz von Unterschieden. Nicht nur das edle Motiv berücksichtigen, sondern auch seine konkreten Folgen. Also Verantwortungs- statt Gesinnungsethik. Zugleich eine Politik, die nicht nur gesellschaftliche Ränder betont, also Bedürftige und Champagner-Etage, sondern zum Beispiel auch die Realität der Millionen Erwerbstätigen, die hart arbeiten, hohe Steuern zahlen, Auto fahren wollen und müssen und sich um die berufliche Zukunft ihrer Kinder sorgen.
Frage: Ist eine Ampel-Koalition nach 16 Jahren CDU-geführter Regierungen nicht automatisch linker?
Lindner: Nein. Diese Regierung ist nicht linker als die vorhergehende, nicht linker als die CDU. Wir machen eine Migrationspolitik, die deutlich kontrollierter ist als die der Vorgängerregierung. Ist das links oder rechts? Unsere Klimaschutzpolitik ist marktwirtschaftlicher. Ist das links oder rechts? Die CDU öffnet sich für Steuererhöhungen – wir haben gerade ein Paket umfassender steuerlicher Entlastungen vorgenommen. In Fragen der gesellschaftlichen Selbstbestimmung oder des medizinischen Rechts sind wir liberaler als die Regierung von Frau Merkel, bei der Sozialpolitik spielt das Leistungsprinzip eine größere Rolle.
Frage: Sie haben vom Modernisierungsstau gesprochen. Gasnetze, Bahnstrecken, Straßen, Stromnetze: vieles ziemlich kaputt. Verfluchen Sie Ihre Vorgänger?
Lindner: Nein, das ist Vergangenheit. Und alle Parteien haben seit 1998 zeitweise regiert, am längsten die SPD. Deutschland hat tatsächlich einen enormen Sanierungsstau. Hier ist die Bundesregierung dabei, grundlegende Dinge zu verändern, damit in Deutschland wieder etwas vorangeht. Beim LNG-Tempo haben wir erlebt, was möglich ist, wenn es sein muss. Es muss viel schneller gehen, und da haben wir uns auf etwas Revolutionäres verständigt: dass man beim Bau neuer Infrastruktur nicht vor Ort und eins zu eins die gleiche Fläche für den Naturschutz bereitstellen muss, sondern das auch durch Finanzierung an anderer Stelle erreichen kann.
Frage: Haben Sie den Kanzler gefragt, warum die SPD nicht früher was gegen die Probleme unternommen hat?
Lindner: Nein. Und es interessiert die Menschen nicht, wer in der Vergangenheit an was schuld war. Wir müssen jetzt handeln, Verfahren massiv beschleunigen und das Geld, das wir haben, besser einsetzen.
Frage: Wo könnte Deutschland sein Geld besser nutzen?
Lindner: Ich würde viele wirtschaftslenkende Subventionen beschränken oder ganz streichen.
Frage: Welche?
Lindner: Die Umweltprämie beim E-Auto wollte ich zum Beispiel bald nach Regierungsübernahme streichen. In der Koalition war der Kompromiss möglich, sie auslaufen zu lassen. Das ist gut. Denn die steuerliche Förderung von E-Autos als Dienstwagen reicht aus und ist das bessere Instrument.
Frage: Die Subventionen für Atomkraftwerke sind ausgelaufen. Da müssten Sie sich freuen. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags hat mal ausgerechnet, dass zwischen 1955 bis 2022 budgetwirksame Mittel in Höhe von 169,4 Milliarden Euro geflossen sind.
Lindner: Die Zahl glaube ich nicht sofort. Die Erneuerbaren haben übrigens seit 2005 mehr als 300 Milliarden Euro an Subventionen erhalten, ohne dass sie fähig zur Grundlast geworden wären. Aber viele Leute sind damit reich geworden, dass die Rentnerin und der Bafög-Empfänger EEG-Umlage zahlen mussten. Das haben wir in dieser Regierung beendet.
Frage: Angesichts all dessen, was in keinem guten Zustand ist: Ist für Sie die schwarze Null als Ziel wichtiger oder eine moderne Infrastruktur?
Lindner: Das sind Scheinalternativen. Es standen zum einen in der Vergangenheit oft hohe Finanzmittel im Haushalt, die wegen der bürokratischen Planungs- und Genehmigungsverfahren nicht genutzt worden. Das ändern wir. Es stehen in Rekordhöhe Investitionsmittel zur Verfügung. Zum anderen haben wir hohe Inflation und steigende Zinslasten. Deshalb müssen wir die Schuldenbremse respektieren. Wir können uns uferlose Schulden schlicht nicht leisten. Dabei spielt keine Rolle, für welche Zwecke wir Kredit aufnehmen. Für den Kapitalmarkt gilt: Schulden sind Schulden.
Frage: Treibt es Sie nicht um, dass marode Bahnstrecken und Polizeistationen nur Munition sind für diejenigen, die dem Staat sowieso vorwerfen, er lasse alle im Stich? Nützt das nicht den Demokratieverächtern von der AfD?
Lindner: Das beschäftigt mich. Aber ich bin auf keinen Fall der Meinung, dass man die AfD durch höhere Staatsausgaben klein macht. Wir müssen die Probleme, die die AfD groß gemacht hat, klein machen, um die AfD wieder klein zu machen.
Frage: Was heißt das?
Lindner: Das heißt: Wir brauchen eine ideologiefreie, rationale Energie- und Klimapolitik; eine besser gemanagte Einwanderung, die klar unterscheidet zwischen Menschen, die humanitären Schutz erhalten; denen, die wir in den Arbeitsmarkt einladen – und denen, die wir nach Hause schicken. Wir machen nicht plump dicht. Wir wollen Kontrolle. Wir machen die AfD nicht klein, indem wir ihre Parolen übernehmen. Aber die Probleme, die Menschen veranlassen, diese Partei zu wählen, müssen wir ernst nehmen.
Frage: Im Ringen um mehr Fachkräfte und die Stabilität des Wirtschaftsstandortes hat der BDI-Hauptgeschäftsführer vor kurzem gesagt: Wir brauchen mehr Bock auf Arbeit. Hat er Recht?
Lindner: Ich sehe es differenziert. Es gibt Leute, die nicht zufrieden sein können mit ihrer Lebenssituation, die sich bestimmt nicht fühlen wie im Freizeitpark. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die glauben, sie bräuchten den Freitag nicht mehr, aber der Arbeitgeber sollte den Lohnverlust ausgleichen. Ich würde sagen, dass wir einen neuen wirtschaftlichen Impuls brauchen, keine Diskussion über die Vier-Tage-Woche mit vollem Lohnausgleich, sondern über mehr Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit.
Frage: Der russische Angriff auf die Ukraine hat vieles verändert. Hat er auch Sie verändert?
Lindner: Wer hätte geglaubt, dass Europa noch mal einen solchen Krieg erleben müsste? Vor zehn Jahren habe ich in meinem Buch mit Hans-Dietrich Genscher geglaubt, dass in Europa keine Panzer mehr rollen würden. Im Zentrum stünde der Binnenmarkt und so weiter. Das war ein Wunschtraum. Jetzt stellt man fest: Europa hat als Friedensprojekt nichts an Aktualität eingebüßt.
Frage: Sie sind einer der wenigen Minister, die noch nicht in der Ukraine waren. Warum?
Lindner: Ich bin regelmäßig bilateral mit meinem ukrainischen Kollegen in Kontakt. Fast wöchentlich. Ein Besuch ist eine Frage der Reise-Logistik und des Kalenders. Bei der nächsten Gelegenheit fahre ich. Aber meine Solidarität für die Ukraine habe ich im Kreis der Finanzminister der G7 schon bewiesen.
Frage: Die FDP gehörte zu denen, die die Wehrpflicht abschaffen wollten. War das richtig?
Lindner: Das glaube ich militärfachlich unverändert. Wir brauchen hochspezialisierte und sehr gut ausgebildete Streitkräfte. Grundwehrdienstleistende vermögen das nicht abzubilden. Die volkswirtschaftlichen Kosten sind sehr hoch, wenn man junge Menschen in Zeiten des Fachkräftemangels davon abhält, eine qualifizierte Ausbildung zu machen. Aber die Art der Aussetzung war ganz klar ein Fehler.
Frage: Wieso?
Lindner: Der Wechsel zur Freiwilligenarmee hätte ein Investitions- und kein Sparprogramm nach sich ziehen müssen. Das Berufsbild muss attraktiv sein, man muss Sinn spüren. Sinn spürst du, wenn du mit dem richtigen Gerät arbeitest; nicht, wenn du fortwährend zur Improvisation gezwungen bist.
Frage: Boris Pistorius und die Bundeswehr können also wie vom BMVg erhofft mit mehr Geld rechnen im neuen Haushalt?
Lindner: Wir haben das Sonderprogramm für die Bundeswehr im Grundgesetz. Zusammen mit dem Bundeshaushalt wird es also deutliche Mittelverstärkungen geben, ja. Klar ist aber auch: Nicht alles, was wünschenswert ist, ist auch kurzfristig finanzierbar. Wir müssen uns zunächst auf das Dringliche konzentrieren.
Frage: Sie haben aber ein Lieblingsprojekt: den Kapitalstock für die Rente. Wie wollen Sie den auffüllen? Es heißt, die Übertragung von Bundesbeteiligungen in einen solchen Fonds hätten Sie verworfen.
Lindner: Das Generationenkapital kommt. Und Sacheinlagen sind beabsichtigt, also auch die Übertragung von Bundesbeteiligungen, die nicht in öffentlichem Interesse stehen. Wir planen in diesem Jahr mit der ersten Tranche von 10 Milliarden Euro zu beginnen, den Kapitalstock zu füllen. Damit der wirklich auf Dauer funktioniert, müssen in jedem Jahr bis in die zweite Hälfte der 2030er-Jahre zweistellige Milliarden-Euro-Summen eingezahlt werden. Man muss wissen, dass dies den Bundeshaushalt nicht belastet. Es handelt sich um finanzielle Transaktionen auch außerhalb der Schuldenbremse, weil das Geld nicht konsumiert wird, sondern angelegt. Die sich aus Zins und Zinseszins ergebenden Erträge sollen den Rentenbeitrag stabilisieren und reduzieren.
Frage: Und wie geht der Streit um die Kindergrundsicherung aus?
Lindner: Es gibt dort keinen Streit, weil es noch gar keine konkreten Vorschläge gibt. Die Kollegin Lisa Paus arbeitet daran intensiv, ich freue mich auf die Beratung. Das wird gut. Aber dafür ist das Wesentliche finanziell getan, durch das neue Bürgergeld, den Kinderzuschlag und das Kindergeld. Jetzt muss sichergestellt werden, dass alle, die Ansprüche haben, diese realisieren. Wir wollen das digitalisiert und automatisiert auszahlen. Wenn das gelingt, werden tausende Familien profitieren. In Wahrheit möchten manche Grüne auch das Niveau von Transferleistungen insgesamt erhöhen. Da muss man aufpassen, dass Arbeitsanreize für Erwachsene nicht reduziert werden.
Frage: Wenn alle beantragen, die anspruchsberechtigt sind: Über wie viel Geld reden wir dann?
Lindner: Meine Experten schätzen, dass dies zwei Milliarden Euro sein könnten.
Frage: Sind die schon eingepreist in Ihrem noch nicht verabschiedeten Haushaltsentwurf?
Lindner: Eine geschickte Frage. Aber da geht es planmäßig erst um das Jahr 2025. Ohnehin ist das noch nicht etatreif, da es keine Eckpunkte gibt.
Frage: Die FDP hat sehr häufig den Generalsekretär gewechselt. Woran liegt das?
Lindner: Stimmt denn die Faktenlage? Seit ich Parteivorsitzender bin, hatte die FDP vier Generalsekretäre. Die SPD hatte fünf. CDU und CSU hatten jeweils vier. Sie wollen vermutlich fragen, warum mit mir so viele Generalsekretäre zusammen gearbeitet haben. Weil die FDP mit ihrem Vorsitzenden mehr Kontinuität hat als andere. Ich bin eben der dienstälteste Parteivorsitzende.
Frage: Müssen Sie nicht irgendwann einen Nachfolger aufbauen?
Lindner: Mein Kollege Lars Klingbeil mit 45 ist für manche Medien der Hoffnungsträger, übrigens zu Recht, mich fragen Sie aber mit 44 nach dem Ruhestand? Dass wir viele starke Persönlichkeiten haben, ist klar. Die werden sich selbst und eine Gravitation in der Partei entwickeln. Die Aufgabe des Vorsitzenden ist ja es, als Zentrum der Partei zu wirken. So was kann nicht verliehen werden. Aber ich selbst habe noch viel vor.
Frage: Ist Work-Life-Balance für Sie ein Thema?
Lindner: Natürlich hätte ich gerne mehr Zeit für meine Frau, meine Familie und meine Freunde. Aber zugleich ist für mich meine Arbeit auch Quelle von Lebensfreunde und Sinn. Mir würde etwas fehlen, wenn mein Beruf nicht auch Teil von Selbstverwirklichung wäre. Einen Gegensatz zwischen Arbeit und Leben aufzumachen geht ja zurück auf Karl Marx: Einerseits das Reich der Freiheit, und das Reich der Notwendigkeit war die Arbeit. Meine Arbeit ist meine Leidenschaft.
Frage: Der Anti-Marx.
Lindner: Hoch gegriffen.
Frage: Sie haben im Sommer 2022 bewusst sehr öffentlich geheiratet. Würden Sie das nach den Reaktionen darauf wieder tun?
Lindner: Das weise ich zurück. Wir haben mit Freunden und Familie privat an einem Ort geheiratet, der uns etwas bedeutet. Ich kann keine Verantwortung dafür übernehmen, wenn Medien sich uneingeladen mit ihrer Kamera platzieren.
Frage: Angesichts der Anfeindungen – wofür machen Sie das?
Lindner: Die bemerke ich eher weniger, da überwiegt das positive Feedback. Ich bin in der Politik, weil ich von jungen Jahren an ein Lebensgefühl habe, von dem ich glaube, dass es in Deutschland kritisch beäugt wird: Selbstbestimmung, Freiheit, Leistungsorientierung, Toleranz gegenüber unterschiedlichen Lebensmodellen. Das ist vielleicht kein Mehrheitsprogramm, aber dafür lohnt sich jeder Einsatz.
Frage: Wurmt es Sie, dass man Sie anders als Robert Habeck nicht als potenziellen Kanzler handelt?
Lindner: Als ich Mitte der 90er Jahre in die FDP eingetreten bin, war deren Existenz gefährdet. Da stand nicht die Frage im Zentrum, ob man Kanzler werden kann. Es ging um Grundüberzeugungen. Daran hat sich nichts geändert.