LINDNER-Interview: Die FDP wird nicht in eine Regierung mit den Grünen eintreten
Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner MdB gab der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ (aktuelle Ausgabe) und „faz.net“ das folgende Interview. Die Fragen stellte Jochen Buchsteiner.
Frage: Herr Lindner, Ihre Partei und die Union haben mit der AfD für eine schärfere Migrationspolitik gestimmt und so erstmals eine neue Parlamentsmehrheit geschaffen. Ist die „Brandmauer“ jetzt Vergangenheit?
Lindner: Wir haben einem Antrag der Union zugestimmt, der unserer langjährig vertretenen Überzeugung entspricht, dass Migration konsequenter gesteuert und begrenzt werden muss. Es ist tragisch, dass Rot-Grün sich dem verweigert hat. Es kann allerdings mit der AfD kein Zusammenwirken geben. Die AfD hat auf ihrem letzten Parteitag gesagt, sie wolle die „Windräder der Schande“ einreißen. Diese Partei hat also so wenig Verständnis für das private Eigentum wie die Linke, denn die Windräder gehören jemandem. Ein Austritt aus der EU würde uns politisch isolieren und wirtschaftlich ruinieren. Die Rentenpolitik der AfD führt zu 25 Prozent Beitrag und ist damit wirtschaftsfeindlich. Und da habe ich noch keinen Satz gesagt über Rassismus oder die nationale und sozialistische Wirtschaftspolitik eines Höcke. Diese Partei ist nicht satisfaktionsfähig.
Frage: Aber satisfaktionsfähig genug, um mal eben neue Mehrheiten jenseits der sogenannten demokratischen Mitte zu besorgen?
Lindner: Wir entscheiden nach der Sache. Wir werden unser Abstimmungsverhalten nicht daran ausrichten, ob die AfD zustimmt oder nicht. Wir haben jetzt die Ausnahmesituation, dass es wechselnde Mehrheiten gibt. Das hat Olaf Scholz zu verantworten. Denn er hat mein Angebot ausgeschlagen, gemeinsam und geordnet Neuwahlen herbeizuführen wie 2005 Gerhard Schröder. Nach der Bundestagswahl gibt es wieder eine Koalition mit den entsprechenden Rücksichtnahmen. Es wäre für unser Land wichtig, wenn aus der politischen Mitte eine andere Einwanderungspolitik gemacht würde. Insbesondere die Grünen stehen dafür nicht zur Verfügung. Sie sind zu einem Konjunkturprogramm für die AfD geworden. Die Grünen haben jetzt noch, auf ihrem Parteitag, beschlossen, den Familiennachzug auszuweiten und mittelbar die Schlepperkriminalität im Mittelmeer mit öffentlichen Geldern zu unterstützen.
Frage: Grüne und SPD rücken Sie in die Nähe des Faschismus. Eine Koalition der sogenannten Mitte-Parteien scheint nach solchen Worten kaum noch denkbar. Führt uns womöglich nur noch eine Minderheitsregierung mit wechselnden Mehrheiten aus der Regierungsunfähigkeit?
Lindner: In Deutschland sollte keine Regierung gebildet werden, wenn schon von Beginn an klar ist, dass sie über keine stabile Mehrheit verfügt. Wir brauchen eine Koalition, die sich einig darüber ist, dass unser Land nun dringend einen Politikwechsel braucht – bei der Wirtschaft, der Migration und der Energie- wie Klimapolitik. Das ginge am besten mit Schwarz-Gelb.
Frage: Sie stehen bei vier Prozent, Herr Lindner.
Lindner: Eben. Schon minimale Verschiebungen führen dazu, dass die Grünen in die Opposition wechseln und die FDP ihre Linie einbringen kann. 33 Prozent oder 31 Prozent für die Union machen keinen Unterschied. Vier oder sechs Prozent für die FDP ändern die Republik.
Frage: Haben Sie die Ampel zu früh oder zu spät verlassen?
Lindner: Zu spät.
Frage: Hätten Sie sich womöglich schon 2021 an Ihre eigene Doktrin halten sollen: Besser nicht regieren als falsch regieren?
Lindner: Nein. 2021 gab es keine andere Option für eine Regierung. Mein Favorit wäre eine Jamaika-Koalition unter der Führung von Armin Laschet gewesen, aber nach ihrer Wahlniederlage war die Union nicht mehr regierungswillig. Der Ampel-Koalitionsvertrag hat dann ja auch einiges Gute enthalten. Es hat sich erst auf der Strecke gezeigt, dass es versteckte Dissense im Text gab. Die Wucht des Haushaltsurteils im November 2023, das Olaf Scholz’ Buchungsmanöver bei den 60 Milliarden Euro Corona-Krediten verworfen hat, hätte ich für eine Neuverhandlung der Koalition nutzen müssen. Im Nachhinein ist man klüger.
Frage: Seit dem Bruch im November präsentieren Sie sich als Anti-Ampel-Partei. Bei den beiden Hauptwahlkampfthemen – Migration und Wirtschaft – liegt die FDP mittlerweile näher an der AfD als jede andere Partei. Warum profitieren Sie so viel weniger vom allgemeinen Ampel-Kater als Frau Weidel?
Lindner: Unsere Grundpositionen haben sich nicht verändert. Die Zusammenarbeit mit Rot-Grün mag unser Profil verdeckt haben, aber wir haben jeden Tag für Eigenverantwortung, Freiheit, Leistungsbereitschaft und den Respekt vor Eigentum gekämpft. Am Ende ist die Regierung Scholz ja gescheitert, weil wir auf einer Wirtschaftswende bestanden haben und Untätigkeit angesichts einer Wirtschaftskrise nicht akzeptieren wollten. Meine damaligen Vorschläge für Abbau von Regulierung, Steuerentlastungen und mehr Realismus und Technologieoffenheit in der Klimapolitik wurden in der Ampel abgelehnt, aber mit großer Zustimmung in der Wirtschaft aufgenommen.
Frage: Kann es sein, dass Sie ein Glaubwürdigkeitsproblem haben und Ihnen die Rolle als strenger Migrationsbegrenzer einfach nicht abgekauft wird?
Lindner: Die Taten sprechen für sich. Wenn man bereit ist, ein hohes Staatsamt für seine politischen Überzeugungen aufzugeben, beweist man, dass es einem ernst ist. Wann ist das zuletzt passiert, dass eine Partei ins höchste politische Risiko geht, weil sie findet, dass dieses Land eine andere politische Richtung braucht?
Frage: Manche erinnern sich noch, dass Sie sehr migrationsfreundlich gestartet sind: Im Ampel-Vertrag haben Sie vereinbart, den Familiennachzug zu verbessern, Bleiberechtsregelungen und doppelte Staatsbürgerschaften zu vereinfachen.
Lindner: Das ist selektiv beschrieben. Wir haben den Einstieg in die Migrationswende gegenüber der Merkel-Politik erreicht. Beispiele dafür sind das Asylbewerberleistungsgesetz, das auf meinen Vorschlag reduziert wurde, die Bezahlkarte, der Abschiebegewahrsam und auch die Reform der Migrations- und Asylpolitik auf EU-Ebene, auf die wir gedrungen haben. Beim Staatsangehörigkeitsrecht haben wir erreicht, dass niemand mehr den deutschen Pass erhält, der nicht seinen Lebensunterhalt ohne Sozialleistung bestreiten kann.
Frage: Das war aber nicht der Plan gewesen – Sie haben das alles auf öffentlichen Druck hin verschärfen müssen.
Lindner: Die Aufnahme von Ukrainern hat die Lage zwar deutlich verändert, aber die Steuerung von Migration war schon zuvor meine langjährige Überzeugung. Bereits im Herbst 2015 haben wir uns so eingebracht. 2017 sind die Jamaika-Verhandlungen unter anderem an der Flüchtlingspolitik gescheitert. Schon damals ging es um den Familiennachzug, den wir aussetzen wollten.
Frage: Sie haben 2021 einen Koalitionsvertrag unterschrieben, dem sogar Pro Asyl applaudierte, weil die Ampel „die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden will“.
Lindner: Medien haben kommentiert, der Koalitionsvertrag sei mit gelber Tinte geschrieben worden. De facto gab es migrationspolitisch eine Zäsur gegenüber der Merkel-Ära.
Frage: Wie glaubwürdig sind Sie als „Anti-Woke-Partei“, wo Sie in der Ampel das Selbstbestimmungsgesetz beschlossen haben, also die nahezu uneingeschränkte Geschlechterwahl?
Lindner: Wir sind nicht nur wirtschaftspolitisch, sondern auch gesellschaftspolitisch eine liberale Partei. Die praktische Bedeutung dieses Gesetzes wird vollkommen übertrieben. Solche Themen werden hochgekocht, um von den eigentlichen Fragen abzulenken. Neben der Migration ist das die Wachstumsschwäche. Wir gehen wirtschaftlich vor die Hunde, werden international belächelt, folgen einem weltweit einzigartigen Sonderweg bei der Klima- und Energiepolitik, der unsere Substanz massiv beschädigt. Die Menschen haben Sorgen um ihren Job und ihren Lebensstandard.
Frage: Es sind Probleme, die Sie in einer Regierung – und das streben Sie an – weder mit der SPD noch mit den Grünen lösen könnten.
Lindner: Eine Bundesregierung mal ohne linke Parteien wäre in der Tat das Beste. Schwarz-Gelb wäre eine Reformregierung der Mitte. Eine Deutschlandkoalition wie in Sachsen-Anhalt immerhin besser als Schwarz-Grün.
Frage: Wenn ein Kanzler Merz trotzdem lieber mit den Grünen als mit der SPD paktieren möchte und dafür die FDP bräuchte – würden Sie Nein sagen?
Lindner: Ich sehe nicht, dass mit den Grünen eine ideologiefreie Energie- und Klimapolitik, eine Wirtschaftswende und neue Realpolitik in der Migration erreichbar wären.
Frage: Darf man das als ein Nein verstehen?
Lindner: Ja. Die FDP wird nach der Bundestagswahl nicht in eine Regierung zusammen mit den Grünen eintreten.
Frage: Lassen Sie uns über den Liberalismus reden. Der scheint derzeit am erfolgreichsten zu sein, wo er ins Libertäre abbiegt, etwa in Amerika oder Argentinien. Ist der klassische FDP-Liberalismus Bonner Prägung – Soziale Marktwirtschaft, Bürgerrechte, Toleranz – womöglich ein Auslaufmodell?
Lindner: Die Zeiten sind rauer geworden, die Polarisation hat zugenommen. Vielleicht ist deshalb gerade unsere Form der Liberalität besonders notwendig. In den USA haben wir gesehen, dass Libertäres schnell in Autoritäres umkippen kann. Unser Verständnis von Liberalismus ist ja gerade, dass nicht eine Mehrheit der Minderheit Befehle erteilen kann, sondern dass immer auch die Nische einen Raum zur Entfaltung braucht. Die Orientierung am Individuum, das man schützen muss vor dem Machtzugriff des Staates durch Steuern und Bürokratismus, vor der Machtballung von Unternehmen, die selbstherrlich Spielregeln bestimmen, auch vor einer Shitstorm-Mentalität, die abweichende Meinungen niederbrüllt – viele fühlen, dass man das braucht. Diese abgewogene Haltung kommt in unserer rauen polarisierten Debatte leider nicht so stark zur Geltung. Das ist ein Auftrag für die FDP.
Frage: In Amerika haben die Bosse der großen Sozialplattformen das fact checking abgeschafft. Trump applaudiert und spricht von einem Sieg für die Redefreiheit. Wie blickt ein deutscher Liberaler darauf?
Lindner: Ich bin für die freie individuelle Meinungsäußerung im Rahmen dessen, was die Rechtsordnung erlaubt.
Frage: Das sagt auch Elon Musk.
Lindner: Ohne da eine Referenz zu Musk machen zu wollen, halte ich das für richtig. Bei den Fakten-Checks gibt es oft eine Scheinobjektivität, etwa bei den Berechnungen, wie sich die Wahlprogramme der Parteien auf unterschiedliche Einkommensgruppen auswirken. Da werden, auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, falsche Berechnungen von sogenannten Fakten-Checkern verbreitet.
Frage: Manche sehen die Meinungsfreiheit in Deutschland auch unter Druck, weil die Regierung und der Verfassungsschutz die Delegitimierung oder Verhöhnung des Staates offiziell unter Verdacht gestellt haben. Haben Sie dafür Verständnis?
Lindner: Klar ist, dass unser Staat eine wehrhafte Demokratie ist, das heißt, er schützt seine freiheitlich demokratische Grundordnung – aber konstitutiv dafür ist das Recht auf freie Meinungsäußerung. Und die umfasst auch Kritik an Amtsträgern und staatlichen Institutionen und erst recht an Regierungshandeln.
Frage: Gehen Sie juristisch gegen Angriffe gegen Sie im Netz vor?
Lindner: Nicht systematisch.
Frage: Was heißt das?
Lindner: Wenn sich eine Polizeibehörde bei mir meldet, dann unterzeichne ich mitunter den Strafantrag.
Frage: „Dummkopf“ würden Sie durchgehen lassen?
Lindner: Ich bin Kummer gewohnt. Was seitens der Führungskräfte von SPD und Grünen öffentlich über Friedrich Merz dieser Tage oder über die FDP und mich davor gesagt wurde, hat die politische Kultur mehr belastet als viele Kommentare online.
Frage: Sie sagten unlängst, Deutschland würde eine Prise Milei und Musk guttun. Braucht Deutschland wirklich Disruption, um wieder auf die Beine zu kommen?
Lindner: Ja.
Frage: Musk will 30 Prozent des US-Etats kürzen und unzählige Beamte entlassen. Ist das die Größenordnung, die Ihnen auch für Deutschland vorschwebt?
Lindner: Ich bin Realist. Aber unser Staatsapparat muss schlanker werden. Ganze Ämter können aufgelöst werden.
Frage: Mit wie viel weniger Beamten würde Deutschland auch noch funktionieren?
Lindner: Sicher mittelfristig 20 Prozent in der Verwaltung. Bei Bundeswehr, Bundespolizei und Zoll brauchen wir dagegen mehr Personal. Aber bei der Disruption geht es um Grundsätzlicheres. Wir brauchen eine Abkehr vom Habeck-Merkel-Entwicklungspfad in der Klimapolitik: Verschieben des deutschen Klimaziels auf 2050 und damit Angleichung an das EU-Ziel, Abbau der grünen Subventionskulisse, totale Technologieoffenheit bei der Energieerzeugung von CCS über alle Farben des Wasserstoffs bis zu den neuartigen modularen kleinen Kernkraftwerken. Eine stilvoll grün verarmte Wirtschaftsnation, die wir im Jahr 2045 wären, hätte im Wettkampf mit dem wieder fossil fokussierten Trump-Amerika keine Chance. Unsere Verantwortung ist, bis 2050 den Beweis zu erbringen, dass man die Freiheit der individuellen Lebensführung und den wirtschaftlichen Fortschritt durch Technologie mit Klimaschutz verbinden kann. Dann folgen uns andere in der Welt. Sonst sind wir abschreckendes Beispiel.