LINDNER-Interview: Das Kopftuch ist Ausdruck einer Rollenerwartung an die Frau
Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner gab der „Rhein-Neckar-Zeitung“ (Dienstag-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte Andreas Herholz:
Frage: Nach dem Wahlerfolg des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban – müssen sich die EU-Partner jetzt auf noch mehr Widerstand und Konflikte mit Budapest einstellen?
Lindner: Frau Merkel und Herr Seehofer sind gefordert, auf ihren Parteifreund Orban einzuwirken. Der gehört schließlich derselben Parteienfamilie an. Die antiliberale Bewegung sehen wir mit Sorge, aber man kann sich seine Partner nicht aussuchen. Der notwendige Aufbruch in Europa darf daran nicht scheitern. In der Konsequenz muss die Zusammenarbeit in Europa eben flexibler und in unterschiedlichem Tempo erfolgen. Als Reaktion sollten die Staaten, die enger kooperieren wollen, jetzt beweisen, dass man gemeinsam politischen Mehrwert schaffen kann.
Frage: Eiszeit im Verhältnis zu Russland. Auch aus Ihrer Partei kommt der Ruf nach Dialog und Lockerung der Sanktionen. Was spricht dagegen?
Lindner: Die Lockerung von Sanktionen ohne Gegenleistung des Kreml würde dort die Hardliner stärken. Dass sich die russische Regierung nicht kooperativ an der Aufklärung des Giftgasangriffes in London beteiligt, spricht Bände. Ich habe aber bereits im vergangenen Jahr ein neues Denken im Verhältnis zu Russland vorgeschlagen. Wir sollten Konsequenz mit neuer Dialogbereitschaft verbinden. Auf militärische Provokationen kann man nur mit Verteidigungsbereitschaft antworten. Wir könnten aber zugleich über ein Format G7+1 den Gesprächsfaden wieder intensivieren. Fortschritte bei der Aufhebung der Sanktionen gegen Russland sollten zudem nicht ausschließlich von der Einhaltung der Minsker Vereinbarungen abhängig gemacht werden, weil hier auch die Ukraine noch die Einhaltung politischer Zusagen schuldig geblieben ist. Langfristig wäre ein Freihandelsabkommen von Vancouver bis Wladiwostok möglich.
Frage: Nach der Amokfahrt von Münster wird über Konsequenzen für die Innere Sicherheit debattiert. Brauchen wir Korrekturen in der Sicherheitsarchitektur?
Lindner: Das ist die typisch reflexhafte Debatte. Nach jeder Gewalttat gibt es den Ruf nach Konsequenzen. Doch dann geschieht wieder nichts. Die föderale Sicherheitsarchitektur und die Zuständigkeiten bei der Bekämpfung von Terror und organisierter Kriminalität bei den Ländern sind hinderlich. Das hat bereits 2013 eine Regierungskommission festgestellt. Besonders deutlich ist das 2016 im Fall des Attentäters Anis Amri geworden. Damals hieß es, dass es grundlegende Änderungen geben müsse. Davon hört man gar nichts mehr. Es steht zu befürchten, dass mit Horst Seehofer gerade ein früherer bayerischer Ministerpräsident und CSU-Politiker hier nicht handelt und die notwendigen Veränderungen in der Sicherheitsarchitektur unterlässt. Wir brauchen eine Straffung der Verfassungsschutzbehörden der Länder und eine Stärkung der Koordinierung beim Bund auf einer klaren gesetzlichen Grundlage.
Frage: Union und SPD treffen sich zur Klausur in Meseberg. Wie bewerten Sie den Start der Großen Koalition?
Lindner: Die Islam-Debatte, die Bundesinnenminister Seehofer angestoßen hat, führt zu nichts. Offenbar hat der Dämon der Leitkultur von der CSU Besitz ergriffen. Herr Seehofer sollte sich als Verfassungsminister auf dem Boden des Grundgesetzes bewegen. Wenn es eine vernünftige Einwanderungspolitik gäbe, müsste man nicht solche nutzlosen symbolischen Debatten führen. Auf der anderen Seite des Kabinettstisches sitzt die SPD, die noch immer nicht ihren Frieden mit der Agenda 2010 gemacht hat. Die Sozialdemokraten führen jetzt eine Debatte über einen sozialen Arbeitsmarkt, mit dem Menschen jenseits einer Rückkehrmöglichkeit in den regulären Arbeitsmarkt ruhiggestellt werden sollen. Und in der CDU tobt bereits die Auseinandersetzung um die Macht in der Zeit nach Angela Merkel. Anders sind die Äußerungen von Herrn Spahn nicht zu verstehen.
Frage: Die Regierung verspricht umfassende Entlastungen, plant Wohltaten in Milliardenhöhe und dennoch soll die Schwarze Null eingehalten werden. Wie soll das gehen?
Lindner: Von welchen umfassenden Entlastungen sprechen Sie? Die gibt es nicht. Der Zugriff auf das Geld der Bürger ist regelrecht maßlos. Richtig ist aber, dass die Regierung selbst viel Geld ausgeben will. Ein Grundproblem der Methode Merkel ist, dass politische Unterschiede durch Geld überwunden werden sollen. Da wird die Mütterrente eingeführt, es werden deutlich mehr Staatssekretärs-Posten und Beamtenstellen geschaffen. Herr Scholz muss aufpassen, dass er nicht der Finanzminister wird, der in Zeiten eines finanziellen Booms die Staatsfinanzen ruiniert. Die Pläne der Großen Koalition, von der Mütterente bis zum Bildungspaket, sind nicht gegenfinanziert. Union und SPD sollten jetzt dringend ein Finanztableau vorlegen und Farbe bekennen, was die Umsetzung ihrer Pläne kosten würde. Finanzexperten rechnen bereits mit einem Defizit von 20 Milliarden Euro im Jahr 2021.
Frage: Sie unterstützen die Forderung nach einem Kopftuchverbot für Schülerinnen unter 14 Jahren auch in Deutschland. Was spricht dafür?
Lindner: Wenn Kinder bereits in Grundschulen oder sogar im Kindergarten Kopftuch tragen müssen, greift das in die Persönlichkeitsentwicklung von religionsunmündigen Kindern stark ein. Das Kopftuch ist schließlich in besonderer Weise Ausdruck einer Rollenerwartung an die Frau. Der Staat wacht über das Kindeswohl. Unser FDP-Integrationsminister in NRW, Joachim Stamp, prüft daher, ob und wie der Staat hier eingreifen muss. Ich sehe dies als Baustein einer fordernden Integrationspolitik, die auf dem Boden von Freiheit und Toleranz glasklare Erwartungen formuliert.
Frage: Bayern will die Zulassung von Flüchtlingskindern zum Regelunterricht in der Schule nur nach Werte- und Sprachunterricht zulassen. Eine richtige Entscheidung?
Lindner: Wenn Kinder zu uns kommen, hier auf Dauer leben oder auch nur einige Jahre, ist doch klar, dass sie hier auch gefördert werden und die Schule besuchen müssen. Integrationspolitisch sinnvoll ist es, wenn Flüchtlingskinder schnell in Kontakt mit hier aufgewachsenen Kindern kommen. Doch um dem Regelunterricht folgen zu können, sollten die Schüler unser Sprache verstehen. Für mich gehört dazu auch, dass sie unsere Werte achten. In NRW sind Kinder zwei Jahre in solchen Vorbereitungsklassen und das kann sogar verlängert werden. Wenn Bayern dies jetzt auch einführen will, kann man nur sagen, ‚Willkommen im Club Herr Söder!‘ Schwerpunktklassen zu bilden, ist kein Aussortieren, sondern Voraussetzung, dass Förderung und Integration gelingen.