KUBICKI-Gastbeitrag: Schluss mit dem aktionistischen Übereifer

Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki schrieb für das Magazin „Cicero“ (aktuelle Ausgabe) den folgenden Gastbeitrag:

Der Regierende Bürgermeister Berlins, Michael Müller, hatte einen bemerkenswerten emotionalen Ausbruch in dieser Woche. Angesichts der explodierenden Corona-Zahlen seiner Stadt legte er in einer Pressekonferenz ungebremst offen, woran es einigen Regierungschefs in dieser Pandemie mangelt: an Rechtsverständnis. Er sagte wörtlich: „Meine Sorge ist, dass sich einige auch noch das letzte Stückchen Egoismus einklagen werden. Aber es ist kein Erfolg, sich ein oder zwei Stunden mehr Freiheit zu erstreiten, (…) weil es eben doch wieder dazu verleitet, in größeren Runden zusammen zu kommen (…) und wieder neue Infektionsketten in Gang zu setzen und andere zu gefährden.“ 

Es gibt kein moralisch begründetes Recht

Aus diesen Worten liest sich eine dreiste Schuldumkehr. Geht es nach Michael Müller, ist derjenige, der sein Recht vor einem ordentlichen Gericht einklagt, ein gefährlicher Egoist. Vielleicht wäre etwas mehr Selbstreflexion angezeigt. Denn nicht derjenige, der in einem Rechtsstaat vor Gericht Recht bekommt, hat etwas Falsches gemacht, sondern diejenigen, die ihm dieses Recht nehmen wollten. Es wäre für das Ansehen unserer Rechtsordnung sicher hilfreich, würden manche Regierungschefs nicht ihre eigenen moralischen Kategorien über das Gesetz stellen. Denn ein moralisch begründetes Recht über dem tatsächlichen Recht gibt es nicht. Wer sollte auch darüber richten?

Geringschätzung der verfassungsmäßigen Ordnung 

Die „harte Hand“ hat politischen Entscheidungsträgern in den vergangenen Monaten größere Popularität gebracht. Wir hörten Markus Söder oder die Kanzlerin, die die Zügel wieder anziehen wollten, sollten sich die Menschen im Land nicht so verhalten, wie sie es sich wünschten. Kanzleramtsminister Helge Braun erklärte vor kurzem, die Bevölkerung müsse zur Corona-Bekämpfung sogar mehr tun, als das Gesetz von ihnen verlange. Wir erfahren in diesen Tagen also von höchsten Stellen, dass selbst rechtskonformes Verhalten schon als latent asozial gelten kann. Mittlerweile zeigt sich aber: Gegen diese Art der politischen Kommunikation wächst der Widerstand.

Fast noch schlimmer als die amtliche Angstkommunikation sind jedoch diejenigen Maßnahmen, deren Nutzen bislang nicht bewiesen wurde oder solche, die in positiver Kenntnis der Verfassungswidrigkeit trotzdem ins Werk gesetzt wurden. Als Beispiel dient hier das Beherbergungsverbot, über das der Bayerische Verwaltungsgerichtshof bereits Ende Juli entschied (20 NE 20.1609). Dieser erklärte, diese Maßnahme sei voraussichtlich verfassungswidrig. Neben der Art der Bekanntmachung der Risikogebiete in der damaligen Verordnung rügte der VGH die fehlende Verhältnismäßigkeit. Obwohl der VGH der bayerischen Regierung verfassungskonforme Maßstäbe ins Stammbuch schrieb, hat sie das von Helge Braun und den Chefs der Staatskanzleien beschlossene Beherbergungsverbot später mit forciert und mitgetragen, ohne die Wahrung dieser verfassungskonformen Maßstäbe in dem Beschluss sicherzustellen. Mehr Geringschätzung für unsere verfassungsmäßige Ordnung geht wohl nicht.

Stärkere Kontrollen statt noch mehr Regeln

Uns begegnet immer häufiger ein argumentatives Strickmuster, das uns aus früheren Debatten über Verschärfungen von Sicherheitsgesetzen sattsam bekannt ist. Wenn es ein Problem gibt, wird erst einmal nach schärferen Rechtsnormen gerufen, statt sich zuerst darum zu kümmern, ob Übertretungen der geltenden Regelungen überhaupt geahndet werden. Es gilt vor allem in Unionskreisen offenbar derjenige als durchsetzungsstark, der laut die härtesten Gesetze fordert und nicht der, der sich still um den konsequentesten Vollzug der bestehenden Regeln kümmert. 

Tatsächlich leiden wir in der aktuellen Corona-Zeit nicht unter einem Regelungsdefizit – die Regelungsdichte ist schon sehr hoch –, sondern vielmehr an einem Vollzugsdefizit. Denn die unkontrollierte Ausbreitung des Virus, wie wir sie derzeit wieder erleben, ist nicht zuletzt auf individuelle Rechtsverstöße zurückzuführen – auf die Nicht-Einhaltung der Abstandsregeln, der Maskenpflicht oder der zahlenmäßigen Begrenzung von privaten Feiern. Die Behörden verlieren gerade die Kontrolle über das Virus, weil sie bei der Kontrolle der bereits geltenden Regeln zu schwach oder zu nachlässig gewesen sind. Da helfen jedoch nicht mehr Regeln, sondern eine bessere Kontrolle derjenigen Regeln, die auch wirklich sinnvoll sind.  

Aktionistische Überreaktionen

Die entscheidende Frage ist deshalb, welche Regeln sinnvoll sind. Die behördliche Hilflosigkeit führt ja bisweilen zu aktionistischen Überreaktionen. So kommen Forderungen wie eine verschärfte Maskenpflicht zum Beispiel in Fußgängerzonen auf die Agenda. Dieser Verpflichtung, die bereits in mehreren Städten umgesetzt wird, müsste zuerst eigentlich der Nachweis vorangehen, dass es dort ohne Maske bisher zu einem relevanten Infektionsrisiko gekommen ist. 

Und es gibt Bereiche, in denen ergeben Verschärfungen der bisherigen Regelungen keinen Sinn – trotzdem werden sie beschlossen. Ob ein Restaurant um 24 Uhr, statt um 23 Uhr schließt, macht infektionsrechtlich keinen Unterschied. Das Virus ist ab 23:01 Uhr nicht gefährlicher. Ich habe auch noch nie erlebt, dass Restaurantgäste ab 23 Uhr torkelnd von Tisch zu Tisch gegangen sind, um andere Gäste zu umarmen. Trotzdem meinen Landesregierungen, an der Uhrzeit das Wohl und Wehe der Corona-Bekämpfung festmachen zu müssen, anstatt sich konsequent darum zu kümmern, dass die Hygienekonzepte und Abstandsregeln vor Ort auch wirklich eingehalten werden.

Akzeptanz der Bevölkerung erhalten

Wir müssen sehr aufpassen, dass die Akzeptanz der Anti-Corona-Maßnahmen erhalten bleibt. Dies kann nur gelingen, wenn für die Mehrheit der Menschen im Land nachvollziehbar ist, dass diese Maßnahmen auch wirklich den Zweck zur Eindämmung des Virus erfüllen und nicht den Eindruck erwecken, sie seien ein symbolisches Ausweichmanöver, weil sich die politische Entscheidungsebene nicht besser zu helfen weiß. Dann nämlich werden die Einschränkungen von vielen Menschen eher als unbotmäßige Repression wahrgenommen. Einer Spaltung in diejenigen, die an die Wirksamkeit härtester Regeln glauben und diejenigen, die dies nicht tun, kann man nur begegnen, wenn aus dem „Glauben“ allseits nachvollziehbares Wissen wird. Regeln müssen für jede und jeden nachvollziehbar, verhältnismäßig und angemessen sein. Es darf deshalb nie mehr passieren, dass Menschen für das Lesen auf Parkbänken bestraft werden aber die Hochzeitsfeier mit illegal mehreren hundert Teilnehmern unbehelligt bleibt.

Mit Argumenten überzeugen

Und wir müssen in den Bereichen, in denen die staatliche Kontrolle aus (verfassungs-)rechtlichen Gründen nicht möglich ist, anders vorgehen als bisher. So ist klar, dass die Ordnungsbehörden bei privaten Feiern in der eigenen Wohnung nicht anlasslos einrücken können, um die Personenzahl und die Anzahl der beteiligten Haushalte zu überprüfen – zum Glück! Da der Staat dankenswerterweise also nicht jeden Winkel ausleuchten darf, müssen die politischen Entscheidungsträger dem mündigen Bürger ein größeres Vertrauen als bislang entgegenbringen. Die Vernünftigen sind jedenfalls in der großen Überzahl. Auch aus diesem Grund brauchen wir die breite parlamentarische Debatte über den Fortschritt der Pandemiebekämpfung mehr denn je, damit wir über jede einzelne Maßnahme diskutieren können, und um die Menschen auf demokratischem Wege von dem besseren Weg zu überzeugen. Die offene Debatte macht die Entscheidungen nachvollziehbarer und stärkt damit die Eigenverantwortung jedes Einzelnen. 

Mit Argumenten überzeugen, nicht mit amtlichen Drohungen oder überschießenden Rechtsverschärfungen erziehen zu wollen, muss die demokratische Devise sein. Gerade in schwierigen Zeiten.

 

 

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