DJIR-SARAI/VOGEL-Gastbeitrag: Wir brauchen eine Neuordnung der Migrationspolitik.
FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai und der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Johannes Vogel schrieben für „Welt“ (Montag-Ausgabe) und „welt.de“ den folgenden Gastbeitrag:
Nur weil etwas lange währt, wird es noch nicht gut. Aber nach Jahrzehnten quälender Debatten steht unser Land nun vor einer großen Chance. Es hat lange gedauert – gemessen an der langen Migrationsgeschichte der Bundesrepublik sogar unfassbar lange –, bis es keinen seriösen politischen Widerspruch mehr gab gegen den unumstößlichen Fakt: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Unseren Wohlstand haben die sogenannten Gastarbeiter, die aus allen Himmelsrichtungen zu uns kamen, mit aufgebaut. Sie kamen, und sie sind geblieben. Auch unser künftiger Wohlstand hängt entscheidend von mehr Einwanderung in unseren Arbeitsmarkt ab.
Handwerksbetriebe und mit ihnen der gesamte deutsche Mittelstand suchen schon heute händeringend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es herrscht so gut wie überall Personalmangel. Ab Mitte dieses Jahrzehnts kommen echte demographische Probleme auf uns zu, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen und zugleich die arbeitsmarktbezogene Einwanderung aus EU-Staaten abnimmt, weil Europa insgesamt altert. Unser Rentensystem werden wir dauerhaft nur mit Strukturreformen und mehr Einwanderung stabilisieren können.
Ohne genug Informatikerinnen und Programmierer werden wir im digitalen Zeitalter weiter abgehängt – und an Innovationskraft verlieren. Die Forschung ist glasklar: Qualifizierte Einwanderung sorgt auch für Wohlstandsgewinne. Die Vielfalt der Menschen bringt die Vielfalt an Ideen – weshalb wir auch im Inland kein Talent mehr verschenken dürfen. Sozialer Aufstieg im Inneren und kluge Einwanderungspolitik von außen – das sind zwei Seiten derselben Medaille.
Ein modernes Einwanderungsland braucht aber auch ein modernes Einwanderungsrecht. Im weltweiten Wettbewerb um Talente schneidet unsere Republik bisher schlecht ab. Und das liegt nicht alleine an der Sprache, dem Wetter und den hohen Steuern – auch wenn wir letzteres verändern sollten. Es ist frappierend, dass drei Ländern herausstechen, die in dem Wettbewerb um die klugen Köpfe und die fleißigen Hände besonders gut abschneiden und die die Migration am stärksten arbeitsmarktbezogen steuern: Kanada, Australien und Neuseeland. Diese drei haben eines gemeinsam: Ein Punktesystem.
Dieses Punktesystem muss endlich auch Teil des deutschen Einwanderungsrechts werden, dafür kämpfen wir Freie Demokraten seit vielen Jahren. Das Kabinett hat dazu in dieser Woche Eckpunkte beschlossen, das Gesetz muss bald folgen. Es muss der erste, wichtigste Schritt eines Gesamtpakets zur Neuordnung der Migrationspolitik sein, begleitet von schnell und wertschätzend arbeitenden Visa-Stellen und Ausländerämtern.
Zum modernen Einwanderungsrecht gehört dann im zweiten Schritt auch ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht. Denn die Talente, die wir brauchen, warten nicht an unserer Grenze. Sie haben Alternativen. Sie gehen in das Land, das ein leicht verständliches System bietet – und die Perspektive, sie zu gleichberechtigten Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern zu machen. Für Einwanderer in unseren Arbeitsmarkt ist nämlich die Gesellschaft attraktiv, in der nicht die Herkunft zählt, sondern die eigene Anstrengung.
Auch hier macht Kanada vor, wie es geht: Wer arbeitet, finanziell eigenständig ist, keine Sozialleistungen bezieht, sich an die Gesetze und Regeln hält und sich zur Verfassung bekennt, kann nach überschaubarer Zeit eingebürgert werden, auch ohne dafür schon in der ersten Generation die alte Staatsbürgerschaft abgeben zu müssen mit all den dabei oft entstehenden Problemen, zum Beispiel bei Eigentum im Land der Eltern. Dieses Modell unserer kanadischen Freunde sollten wir übernehmen – und die Einbürgerungsfeiern mit Flagge und Hymne gleich mit. So steht es auch im Wahlprogramm der Freien Demokraten. Das Prinzip, dass nur eingebürgert werden kann, wer von der eigenen Hände Arbeit leben kann und sich an Recht und Gesetz hält, ist bereits jetzt deutsche Staatspraxis. Dabei muss und wird es bleiben.
Klar ist: Wir müssen die Migration insgesamt besser ordnen und steuern. Die unionsgeführte Vorgängerregierung hat die Migrationspolitik jahrelang nicht umfassend geregelt. Dieses Versäumnis müssen wir jetzt mit einem guten Gesamtpaket nachholen. Denn wir brauchen mehr reguläre und weniger irreguläre Migration. Unsere Kommunen dürfen mit den humanitären Verpflichtungen nicht allein gelassen und überfordert werden. Der Wiedereröffnung der Balkanroute durch die Türkei und Serbien, ausgerechnet zeitgleich zum notwendigen Schutz der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, müssen wir entschlossen entgegentreten.
Die Rückführung abgelehnter Asylbewerber muss endlich schneller vonstattengehen. Gut integrierte Familien abzuschieben und diesen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu verbauen, ist hingegen nicht im Sinne einer modernen Migrationspolitik. In Europa muss der Knoten bei der Verteilung durchschlagen und eine Antragsprüfung in Drittstaaten auf den Weg gebracht werden. Migrationsabkommen müssen von einem Sonderbevollmächtigten der Bundesregierung endlich vorangetrieben werden. Bei der Besetzung dieses im Koalitionsvertrag festgehaltenen Postens gilt es daher, keine weitere Zeit zu verlieren.
Einerseits kann niemand die staatspolitischen Verdienste der Union um unser Land bestreiten. Andererseits ist die Union als ehemalige Kanzlerpartei auch für das migrationspolitische Chaos verantwortlich. Wenn Konservative dieser Tage mit aller Inbrunst das überfällige Punktesystem ablehnen und gegen die Einbürgerung von arbeitenden Fachkräften wettern, werden sie auf unseren entschiedenen liberalen Widerstand treffen. Wir rufen die staatstragende Opposition auf, innezuhalten und sich am Interesse unseres Landes zu orientieren. Ebenso müssen Teile der politischen Linken anerkennen, dass jedes erfolgreiche Einwanderungsland Migration klar ordnet und steuert – und eindeutige Regeln zur Einwanderung auch Klarheit darüber schaffen, wer nicht einwandern darf und das Land wieder verlassen muss.
Nur ein Kurs der Vernunft aus der politischen Mitte heraus bietet die Chance, einer umfassenden Neuordnung der Einwanderungspolitik breite und dauerhafte Akzeptanz zu verschaffen. Wenn uns dies gelingt, haben wir die Zeiten von Krieg und Energiekrise zugleich genutzt, um neben den drängendsten auch andere essentielle Fragen zu beantworten. Damit legen wir die Grundlage für ein modernes und auch künftig wirtschaftlich starkes Land, in dem nicht zählt, woher jemand kommt, sondern wohin jemand mit uns gehen will.