BUSCHMANN-Gastbeitrag: Thomas Dehler und die Freiheit, man selbst zu sein
FDP-Präsidiumsmitglied und Bundesminister der Justiz Dr. Marco Buschmann schrieb für den „Tagesspiegel“ (Mittwoch-Ausgabe) und „Tagesspiegel.de“ den folgenden Gastbeitrag:
Hans-Dietrich Genscher bekannte, von keinem anderen Mann außerhalb seiner Familie so „verzaubert“ gewesen zu sein wie von Thomas Dehler. Hildegard Hamm-Brücher nannte sich ihm „menschlich beinahe überschwenglich zugetan“. Der Publizist und liberale Denker Barthold C. Witte bekundete schlicht, ihn „geliebt“ zu haben.
Was war das für ein Mann, der die Menschen so für sich einnahm? Ein konzilianter, nachgiebiger Mensch war es nicht; „ein wenig schwierig“ hat er sich selbst genannt. Die Zeitläufte haben ihn so gemacht: unnachgiebig, kompromisslos – in der ihm wichtigsten Sache, dem Recht. Er hatte gesehen, was passiert war, als die Deutschen hier auf die abschüssige Bahn gerieten. Und er hat es einmal seine Erfahrung aus der Weimarer Zeit genannt, dass es darauf ankomme, „dass bestimmte Menschen das, was sie für richtig halten, hart und unerbittlich sagen“.
Thomas Dehler war ein Fundamentalist des Rechts und des Rechtsstaats, deren Sinn und Grund für ihn die Freiheit des Einzelnen war. In den Wirren der Münchner Räterepublik hat er 1919 als Jurastudent mit dem Gewehr in der Hand Sozialdemokraten gegen rechts- und linksradikale Angriffe verteidigt – nicht weil er deren Gedanken richtig fand, sondern weil er ihre Meinungsfreiheit schützen wollte. Ein Voltaire après la lettre!
Geboren 1897 in Lichtenfels, im liberalen Oberfranken, wuchs er durchaus katholisch auf, fand sich aber früh in Opposition zum bayerisch-katholischen Konfessionalismus und Klerikalismus, zur Übergriffigkeit des Religiösen in die Sphäre des Staates. Mit Hildegard Hamm-Brücher kämpfte er dann nach 1945 in Bayern gegen die Konfessionsschulen. Die Freihaltung des Staates von gesellschaftlich-partikularen Ansprüchen, von Gruppeninteressen, die Wahrung seiner Allgemeinheit, war ihm ein urliberaler Gedanke.
Im Ersten Weltkrieg seit 1916 Soldat, empfand er selbstverständlich patriotisch-national. Aber auch hier hat er noch kurz vor seinem Tod aufgezählt, welche Rechtsverletzungen seines Landes ihn damals tief beunruhigt hatten – von der völkerrechtswidrigen Verletzung der Neutralität Belgiens bis zum seekriegsrechtswidrigen uneingeschränkten U-Boot-Krieg.
Republik und Rechtsstaat stützte er seit 1919 in Walther Rathenaus Deutscher Demokratischer Partei, an der Seite auch schon von Friedrich Naumann und Theodor Heuss, und als Rechtsanwalt in Bamberg. Unter vielfältigen Repressionen einschließlich einer Zwangsarbeitslager-Internierung schaffte er es nach 1933 dennoch, weiterhin anwaltlich zu arbeiten, auch jüdische Bürgerinnen und Bürger zu vertreten und seine Ehe mit einer „Halbjüdin“ zu verteidigen. Seit Mitte der dreißiger Jahre gehörte er der Robinsohn-Strassmann-Widerstandsgruppe an.
Unbelastet wurde Thomas Dehler dann zu einem Gründer und Gestalter der jungen Bundesrepublik: als Landrat, Generalstaatsanwalt und Oberlandesgerichtspräsident in Bamberg, als Mitbegründer der Bayerischen und der Bundes-FDP, als deren Vorsitzender und Fraktionsvorsitzender, später auch als Vizepräsident des Deutschen Bundestages.
Er spielte eine führende Rolle im Parlamentarischen Rat, wo er die Grundrechte, die bürgerlichen Freiheitsrechte und die klassischen Sätze zur Menschenwürde mitformulierte. Dass Grundrechte und Verfassung in ihrem Wesensgehalt von einem künftigen Gesetzgeber nicht angetastet werden dürften – auch das war ein Grundgedanke Dehlers, der sich seinen Erfahrungen in Republik und NS-Staat verdankte.
Als erster Justizminister der Bundesrepublik von 1949 bis 1953 ist er dann zum Architekten von Rechtseinheit, Rechtsstaat und Justiz unseres Landes geworden.
Mit manchem blieb er gleichwohl unzufrieden. Er hat früh gefunden – und sah sich später darin bestätigt –, dass das Bundesverfassungsgericht in genuin politischen Fragen zu stark war gegenüber dem Gesetzgeber und dass die Gefahr bestand, dass es zunehmend an dessen Stelle rücken werde.
Er sah – und prangerte das unermüdlich an – auch in seiner bundesrepublikanischen Gegenwart wieder viel opportunistischen Umgang mit dem Recht – und konstatierte, dass die Verletzung des Rechts die liberale Demokratie zerstöre und ihr das zentrale Unterscheidungsmerkmal zu Autokratie und Despotie nehme. Das gilt heute nicht weniger als damals.
Gegen Adenauer, seinen Kanzler und Koalitionspartner, brachte ihn dessen Politik der Westintegration auf, die er mit fortschreitender Zeit als das Aufgeben des Wunsches und Zieles empfand, Deutschland wieder zu einigen.
Aber auch hier: Es war ein Nationsempfinden aus Gründen von Recht und von Freiheit. Dehler wollte politische Initiativen für das Ziel, dass einmal auch die Ostdeutschen in einem gesamtdeutschen demokratischen Nationalstaat mit Grund- und Freiheitsrechten lebten. Und er wollte, dass diese grundgesetzlichen Errungenschaften für die Deutschen auch in dem sich einenden Europa der Rechtsstaaten sicher galten.
Thomas Dehlers Reden und Aufsätze als Minister, als FDP-Vorsitzender und FDP-Fraktionsvorsitzender im Deutschen Bundestag und als Intellektueller gehören bis heute zum Besten, was man politisch aus jener frühen Bundesrepublik lesen kann.
Aus jedem dieser Texte spricht der ganze Dehler. Kaum einer konnte wie er Recht und Freiheit als unabdingbare Grundlage eines gelingenden persönlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und staatlichen Lebens darlegen.
Kaum einer tat das mit so viel klassischer Bildung, die bei ihm stets eingesetzt ist für ein tieferes Verständnis der Zusammenhänge, und mit so viel spürbarer persönlicher Menschlichkeit und Herzensbildung. Thomas Dehler gehört zu den großen Liberalen des 20. Jahrhunderts.
Empathie und menschlich-soziale Sensibilität waren dabei für ihn nicht abseits der Freiheit zu gewinnen, sondern ganz im Gegenteil indem man die Freiheit bis in die letzte Konsequenz ernst nahm – auf jedem Feld, auch auf dem der Wirtschaft, wo er lieber von Marktwirtschaft ohne Adjektiv sprach und in vielen staatlichen Regulierungen gerade die Ursache unbeabsichtigter unsozialer Nebenwirkungen sah. Gerade von wirklichem Wettbewerb und von wirklicher Haftung der Marktteilnehmer für ihre Entscheidungen erwartete er sozial verträgliche und nachhaltige Marktresultate.
Sein zentraler Gedanke war, hier formuliert 1965, zwei Jahre vor seinem Tod: „Recht ist, was der Freiheit, der Freiheit der Entscheidung und des Handelns dient und so den Menschen befähigt, die Welt denkend und ordnend zu durchdringen und die Fülle des Lebens zu empfangen. Die Aufgabe des wahren Rechtes ist […]: dem Menschen die Freiheit zu geben, er selbst sein zu können“.
In keiner Zeile aus Dehlers Feder besteht ein Zweifel, dass die Freiheit die persönliche und zugleich die politische Freiheit im Zusammenleben mit anderen und in Verantwortung für andere und für das Ganze des rechtsstaatlich gebundenen Gemeinwesens meint. Niemand buchstabierte so kompromisslos die Freiheit aus und war zugleich so sehr das Gegenteil des Klischees vom kalten Ellbogen-Liberalen.
Dabei wusste Dehler: Das Menschenbild seines Liberalismus, das Bild des seine Freiheit in Verantwortung gebrauchenden, sein Leben wirklich führenden Menschen, ist nicht empirisches Faktum, sondern Postulat, die Idee des Menschen, wie er sein kann und wie er – unterstützt durch staatlich garantierte Bildung – sich bemühen soll zu sein.
Dieses Menschenbild und dieser Rechtsgedanke Thomas Dehlers stehen hinter der Bürgerrechts- und der Gesellschaftspolitik, die wir uns in meinem Verantwortungsbereich für die kommenden Jahre vorgenommen und mit der wir begonnen haben.
Zunächst: Einschränkungen der Freiheit – im Fall der Corona-Schutzmaßnahmen wie im Falle behördlicher Sicherheits- und Ermittlungsbefugnisse – sind künftig wieder, unter strengsten Maßstäben und evidenzbasiert, begründungspflichtig.
Thomas Dehler hat auch das in einer Weise formuliert, dass der heute wieder ertönende wütende Ruf vom „liberalen Egoismus“ ersticken muss: „Die Macht des Staates endigt an den Grenzen der Lebenssphäre des einzelnen; er darf sie nur überschreiten, wenn es das überwiegende Wohl anderer oder das Interesse der Gemeinschaft erfordert.“ Genau das ist unser Maßstab.
Informationsfreiheit in Fragen des Schwangerschaftsabbruchs räumen wir mit der Abschaffung des Paragrafen 219a des Strafgesetzbuchs ein, weil wir den Menschen zutrauen, dass sie mit dieser Freiheit verantwortungsvoll umgehen.
Rechtliche Formen für neue Konstellationen der Verantwortungsübernahme entwickeln wir, weil Menschen unter förderlichen Bedingungen die Freiheit haben sollen zu leben, wie sie es wollen. Die Möglichkeit, ohne misstrauisch-pathologisierende Prozeduren amtlich das Geschlecht zu bekunden, dem man sich zugehörig fühlt, schaffen wir, weil die Grund- und Freiheitsrechte, die Thomas Dehler mitformuliert hat, das verlangen – festgestellt übrigens vom Bundesverfassungsgericht, dessen Klarstellung gegenüber dem Gesetzgeber Dehler in diesem Fall wohl begrüßt hätte.
Das Recht konsequent und immer neu auf den freien und verantwortlichen Menschen auszurichten, darum ging es Thomas Dehler. Denn: „Freiheiten müssen immer wieder errungen werden.“ Und: „Die Freiheit ist nicht mehr in Ordnung, wenn die Ordnung nicht mehr Ergebnis der Freiheit ist.“ Unsere Rechtspolitik steht in der Tradition Thomas Dehlers, der morgen vor 55 Jahren starb.