BEER-Gastbeitrag: "Sofagate" müsste ein Weckruf für Europa sein

Die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments und stellvertretende FDP-Parteivorsitzende Nicola Beer schrieb für die „Neue Zürcher Zeitung“ (Montag-Ausgabe) den folgenden Gastbeitrag:

Die amtierende EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen wollte ihren Amtsvorgänger Jean-Claude Juncker mit politischem Ehrgeiz übertreffen: Nicht nur eine politische, nein, eine geopolitische Kommission wollte sie führen. Doch die EU steuert planlos durch ihre Außenpolitik.

Ein schwächelnder Multilateralismus, die Erneuerung transatlantischer Beziehungen und das parallele Erstarken Chinas machen einen starken europäischen Anspruch auf der Weltbühne in der Tat unerlässlich. Doch seit der Ankündigung von der Leyens steuert Europa planlos durch seine Außenpolitik. Von geopolitischer Kommission keine Spur. Das muss sich ändern: Es gibt mehr zu tun als Stühlerücken.

Klare Worte, ein klares Konzept mit Blick auf Ankara – Fehlanzeige. Zu fest hat Erdogan die EU im Griff. Durch den Deal vor rund fünf Jahren mit Ankara zur Flüchtlingspolitik hat sich die EU erpressbar und hörig gemacht. Eine Kommission mit geopolitischem Anspruch lässt sich nicht vorführen und ist nicht erpressbar. Eine geopolitische Kommission leistet sich keine offene Flanke in der Asyl- und Migrationspolitik. Sie akzeptiert keine türkischen Steigbügel, weil eine der größten Fragen unserer Zeit, die des Asyls und der Migration, auf EU-Ebene unbeantwortet bleibt.

Die Beendigung der Beitrittsverhandlungen ist überfällig, nicht erst, seitdem der Gasstreit zwischen den Mitgliedsstaaten Zypern, Griechenland einerseits und dem Immer-noch-Beitrittskandidaten Türkei andererseits die außenpolitischen Nerven strapaziert – nicht erst, seitdem Erdogans Türkei die Istanbul-Konvention verlassen hat; nicht erst, seitdem die Türkei eine prominente Rolle einnimmt im abscheulichen Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan.

All dies verurteilt die EU. Konsequenzen hat Erdogan deshalb nicht zu befürchten, er kann sich gewiss sein ob der europäischen Beruhigungspillen für Ankara.

Die Liste der Macht- und Sprachlosigkeit der EU lässt sich fortsetzen: Das Verhältnis zu Russland – es bleibt widersprüchlich, von Tagespolitik geprägt, halbherzige Sanktionen sind Europas Antwort. Sie enttäuschen nicht nur die weissrussische Zivilgesellschaft in ihrem Kampf für faire und freie Wahlen, sondern lassen sich auch jüngst wieder im zugespitzten Ukraine-Konflikt beobachten. Selbst angesichts des aggressiven Verhaltens Russlands an der Grenze der Ukraine bringt Europa nicht die Geschlossenheit und den Mut auf, die in der EU höchst umstrittene Gaspipeline Nord Stream 2 auf Eis zu legen und sich mit dem Entschluss zu einem Moratorium damit der Sprache der Macht zu bedienen, die die neue EU-Kommission als Maßstab anlegte bei ihrem Amtsantritt.

Neben Russland und der Türkei muss sich die EU dringend zu Iran verhalten. Seitens des türkischen Nachbarn, mit dem Erdogan ambivalente Beziehungen pflegt, geht eine gigantische überregionale Bedrohung aus. Ein Pulverfass für überregionale Stabilität, gespeist von einer Herrscherriege, die durch archaische Hinrichtungen und Verurteilungen auch europäischer Doppelstaatler ihre Missachtung elementarer Menschenrechte und internationaler Abkommen ausdrückt.

Angesichts der abwesenden ehemaligen Schutzmacht Amerika braucht es eine starke EU, die das Verhältnis zu Iran neu ordnet. Nicht zuletzt eine durch harte Sanktionen, Inflation und das schiere Überleben ausgetrocknete Zivilgesellschaft, die dem Regime ausgeliefert ist, zeigt den unmittelbaren Druck, seitens der EU zu handeln.

Zahlreiche Konfliktherde warten auf eine entschärfende Rolle der EU, doch stattdessen werden eifrig Stühle gerückt: Statt spätestens nach dem Ankara-Vorfall an Positionen zu arbeiten, greift von der Leyen nach einem Zipfel mehr Macht, will dem EU-Rats-Präsidenten Charles Michel eigene institutionelle Wichtigkeit ins Buch notieren.

Ein peinlicher Streit, zumal sich Europa so immer stärker ins außenpolitische Abseits manövriert. Eine Entwicklung, die gerade an China als aufstrebendem, internationalem Player zu beobachten ist. Peking profitiert vom Gezanke der EU. Längst investiert es kräftig in griechische Häfen und polnische Bauernhöfe, kauft sich vielerorts in das Herz Europas ein. Längst ist Peking einer der Großen am internationalen Tisch und konsolidiert seinen globalen Einfluss. Hier muss die EU einen China-Sonderbeauftragten einberufen, der nach innen Partikularinteressen sortiert und nach außen für eine einheitliche Linie sorgt.

Eine erfolgreiche geopolitische EU braucht diese Einigkeit mehr denn je. Debatten, wem protokollarisch welcher Stuhl zusteht, haben da keinen Platz. «Die Organe arbeiten loyal zusammen», besagt Artikel 13 des EU-Vertrags. Wenn wir Europa als starken Mitspieler auf der Bühne internationaler Politik sehen wollen, brauchen wir erfahrene und mutige Politiker, die sich gegen das geopolitische Machtstreben einzelner Mitgliedstaaten durchsetzen können – und noch wichtiger: dürfen. Und es braucht das nötige Handwerkszeug. Im Rat sollte endlich mit qualifizierter Mehrheit in außenpolitischen Fragen entschieden werden, sonst löst sich die Handbremse nicht.

Letztlich braucht die EU eine eigenständige außenpolitische Identität. Den Findungsprozess gemeinsam mit den anderen Institutionen voranzutreiben, ist die vornehme Aufgabe der Präsidentin einer Europäischen Kommission mit geopolitischem Anspruch. Für alles andere gibt es Klappstühle.

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