BEER-Gastbeitrag: Brüssel darf nicht mehr auf Sicht fahren

Die stellvertretende Vorsitzende der FDP und Vizepräsidentin des EU-Parlaments Nicola Beer schrieb für die „Frankfurter Rundschau“ (Dienstag-Ausgabe) den folgenden Gastbeitrag:

Es kriselt gewaltig in Europa, nicht erst seit der Corona-Krise. Europa läuft seit über einem Jahrzehnt im Krisenmodus heiß, ohne Richtungsentscheidung. Was der EU bleibt, ist Stau. Ob bei Migration, Vollendung des Binnenmarkts, einer geopolitischen Außenpolitik auf Augenhöhe gegenüber dem systemischen Rivalen China und unterdrückerischen Regimen wie Russland oder der Türkei – Europa als internationalen Entscheider: Fehlanzeige.

Das Ende der Merkel-Ära ist die Chance eines Neuanfangs für die EU. Es bedeutet ein Ende des Auf-Sicht-Fahrens, ein Ende der halbherzigen Antworten auf Frankreichs Reformideen. Eine Chance für frische Impulse aus Deutschland: Jetzt ist der Moment, die EU robust und krisenfest zu machen. Mit einem ehrlichen und ambitionierten Reformkatalog, zusammen mit unseren Bürgerinnen und Bürgern.

Die EU-Staaten müssen sich auf Änderungen der EU-Verträge einlassen und damit auf die Verschiebung der Kräfteverhältnisse. Weg von der Hinterzimmer-Politik der Hauptstädte hin zum EU-Parlament als demokratisch gewählte und legitimierte Kammer.

Höchste Zeit, dass das EU-Parlament als einzig direkt gewählte Institution Gesetzesinitiativrecht erhält. Das Europaparlament muss klar erste Kraft im Reigen der EU-Institutionen werden – mit europäischem Wahlrecht und europäischen Listen.

Für eine tatsächliche Europawahl anstelle 27 nationaler Wahlen. Mit dem Recht, die Frage des einzigen Sitzes selbst zu entscheiden, statt permanent Spielball zwischen Hauptstadtrivalitäten zu sein. Mit dem Recht, aus den Spitzenkandidaten der Europawahl eine Kommissionspräsidentin oder einen -präsidenten mit Mehrheit im Parlament zu wählen. Mit dem Recht, künftiges Personal einer EU-Kommission, vorgeschlagen durch die vom Parlament gewählte Kommissionsspitze, einzeln zu bestätigen. Auf Basis einer verschlankten Kommission um mindestens ein Drittel ihrer Kommissare, mit reformierten EU-Zuständigkeiten.

Wir brauchen einen geländegängigeren Rat. Die Regierungen sollten häufiger nach dem Mehrheitsprinzip entscheiden, statt im Flaschenhals der einstimmigen Einigkeit stecken zu bleiben, mit teils sachlich schwachen „Paketlösungen“. Das wäre der Weg aus der Sackgasse, etwa beim politischen Minenfeld der bislang gescheiterten Asyl- und Migrationspolitik, Schauplatz nationaler Interessen ohne klares Konzept.

Auch heute, fast sechs Jahre nach Merkels „Wir schaffen das“, blockieren sich die EU-Staaten lieber gegenseitig anstatt ein humanitäres und verantwortungsbewusstes System aus einem Guss zu ermöglichen. Mehrheit statt Einstimmigkeit würde auch eine neu justierte Außen- und Sicherheitspolitik ermöglichen: mit einer starken Stimme der EU, die ihre eigenen Werte, Interessen und Souveränität schützt und sich autokratischen Machthabern rasch und mit Gewicht entgegenstellt. Deutlich artikuliert von einem professionellen europäischen Außenminister. Ob bei Menschenrechten, Handelsstreitigkeiten oder Verteidigung.

Die Trump-Jahre zeigen, dass auch das transatlantische Verhältnis der Grammatik von Wahlerfolgen und Niederlagen folgt. Trotz der Chance auf eine umfassend erneuerte Partnerschaft unter US-Präsident Joe Biden muss Europa jetzt den Rahmen für eine europäische Verteidigungsgemeinschaft setzen und außenpolitisch erwachsen werden.

Wir brauchen eine offene Debatte über Kompetenzen. Was sind die Lehren aus der holprigen Impfstoffbeschaffung der EU-Kommission? Beweis des Scheiterns europäischen Handelns oder Zeit für eine effizientere Kommission mit eigenständigen Zuständigkeiten, etwa im Gesundheitsbereich? Welche Kompetenzen für einen gemeinsamen Finanzmarkt, krisenfest und zukunftsfähig? Wie das ausgefranste EZB-Mandat adressieren?

Immer häufiger agiert die Europäische Zentralbank am Rande oder über ihr Mandat hinaus – im stillen Einvernehmen mit nationalen Regierungen, die sich so vor schwierigen Entscheidungen oder Mehrheiten in ihren Parlamenten drücken – das schafft Frust, Rechtsstreitigkeit und trübt den Blick auf Notwendigkeiten im Euroraum.

Ehrlich wäre, das EZB-Mandat in aller Öffentlichkeit zu diskutieren. Die Unabhängigkeit der EZB einem politischen Mandat opfern, als politisches Instrument von Rettungspaketen bis Green Finance, oder das Mandat neu schärfen für Preisstabilität, unabhängig aktueller politischer Mehrheiten? Die Pandemie hat verdeutlicht, wie verletzbar Europa ist. Die EU braucht deshalb Richtungsentscheide: Reformieren wir. Nicht morgen, sondern heute.

Zur Übersicht Pressemitteilungen