Bundesvorstand der Jungen Liberalen · Bundesvorstand der Liberalen Hochschulgruppen
Herr Gesundheitsminister, lassen Sie die Psychotherapeutinnen und -therapeuten frei!
Herr Gesundheitsminister, lassen Sie die Psychotherapeutinnen und -therapeuten frei!
In Deutschland sind jedes Jahr etwa 27,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen. Doch nicht einmal jeder Fünfte nimmt Kontakt zu einer Psychotherapeutin oder einem Psychotherapeuten auf. Für die Betroffenen können psychische Erkrankungen schlimme Folgen haben: Sie können eine tagtägliche Belastung sein, die Lebensqualität und physische Gesundheit mindern und die freie Entfaltung des Einzelnen hemmen. Im schlimmsten Fall enden psychische Erkrankungen tödlich: Von den etwa 9.200 Suiziden im Jahr 2021 lassen sich 50 bis 90 Prozent auf eine psychische Erkrankung zurückführen. Hinzu kommt, dass viele psychisch Erkrankte doppelt leiden: an ihrer Erkrankung und dem Stigma, das in weiten Teilen der Gesellschaft vorherrscht und es Betroffenen erschwert, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Wer trotzdem Hilfe sucht, wird schnell enttäuscht. Die Wartezeiten auf ein Erstgespräch und einen Therapieplatz betragen für Kassenpatientinnen und -patienten mehrere Wochen bis Monate. Viele geben die Suche nach einem Therapieplatz auf – und beschönigen damit die Statistik des Gesundheitsministers. Die Coronapandemie und die teils überzogenen Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung haben dies weiter verschärft. Psychische Erkrankungen haben aufgrund der sozialen Isolation zugenommen, vor allem bei Kindern und Jugendlichen. Die Politik hat die psychische Gesundheit bislang nur unzureichend adressiert. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann verspottete sogar psychisch erkrankte Menschen, indem er Studierenden in der Coronapandemie erklären wollte, es gäbe keinen Grund, depressiv zu sein.
Für uns Freie Demokraten ist klar: Die psychische Gesundheit eines Menschen ist genauso schützenswert wie die physische Gesundheit. Denn die psychische Gesundheit ist eine Grundbedingung für die freie Entfaltung des Einzelnen, für die Entfesselung seines Potenzials und ein glückliches und erfülltes Leben. Wer psychisch erkrankt ist, braucht Hilfe, und zwar unverzüglich. Der aktuelle Mangel an Therapieplätzen ist auf die fehlerhafte Bedarfsplanung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zurückzuführen. Denn es gibt nicht zu wenig Psychotherapeutinnen und -therapeuten, sondern zu wenige mit Kassenzulassung.
Handlungsbedarf besteht auch deshalb, da zum 01.01.2024 das neue Sozialgesetzbuch XIV in Kraft tritt. Darin ist dann auch der längst überfällige Zugang zu psychotherapeutischer Frühintervention für Opfer von Gewalttaten geregelt. Geschädigte Personen sollen zeitnah frühe Hilfen in Traumaambulanzen in Anspruch nehmen können. Der anspruchsberechtigte Personenkreis wird zudem um Angehörige, Hinterbliebene und Nahestehende erweitert, die ebenfalls psychotherapeutische Frühintervention benötigen. Eine besondere Opfergruppe sind Kinder und Jugendliche, die Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt wurden. Deren Belastungssymptome sind mit denen eines Erwachsenen nicht zu vergleichen, sodass zukünftig mehr als bisher spezielle Traumaambulanzen für Kinder und speziell ausgebildete Therapeuten dringend notwendig sind. Die Finanzierung der Traumaambulanzen ist durch die Länder sicherzustellen. In den Jahren 2024-2028 wird mit Kosten für die Verwaltungen der Länder in Höhe von 3,57 Millionen Euro gerechnet. Die Inanspruchnahme auch dieser Leistungen darf weder an den Finanzen noch am Mangel an Psychotherapeutinnen und -therapeuten scheitern, sowohl in den Traumaambulanzen als auch in der fachlichen Weiterbetreuung. Deshalb fordern wir:
- Ausweitung des Kostenerstattungsverfahrens: Als Sofortmaßnahme zur Verkürzung der Wartezeiten auf einen Therapieplatz wollen wir das Kostenerstattungsverfahren vereinfachen. Damit können Betroffene psychotherapeutische Leistungen auch bei Therapeutinnen und Therapeuten ohne Kassenzulassung einfacher in Anspruch nehmen. Künftig soll eine Bescheinigung durch eine Therapeutin oder einen Therapeuten im Erstgespräch ausreichen, um das Kostenerstattungsverfahren in Anspruch nehmen zu können.
- Erhöhung der Kassensitze für Psychotherapeutinnen und -psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendpsychotherapeutinnen und -therapeuten: Unser Ziel ist es, die Wartezeiten auf Erstgespräch und Therapieplatz auf unter vier Wochen zu verkürzen. Daher wollen wir die Anzahl der Kassensitze für Psychotherapeutinnen und -psychotherapeuten sowie für Kinder- und Jugendpsychotherapeutinnen und -therapeuten deutlich erhöhen. Vor allem in unterversorgten, ländlichen Regionen wollen wir die Abweichung von der Bedarfsplanung vereinfachen und auch einen kompletten Verzicht auf eine Begrenzung der Kassensitze ermöglichen. Die Zahl der Studienplätze ist zu erhöhen, um auch langfristig eine stabile Versorgung sicherzustellen.
- Reform des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA): Die Bedarfsplanung des G-BA und auch das Gremium als solches müssen reformiert werden. Denn der G-BA ist in seiner Aufgabe gescheitert, eine hinreichende Versorgung sicherzustellen. Im G-BA müssen Vertreterinnen und Vertreter der Patienten künftig ein Stimmrecht haben. Patientinnen und Patienten müssen gegenüber den Mitgliedern ein Petitionsrecht erhalten. Bei der Bedarfsplanung ist in Zukunft zu berücksichtigen, dass es eine hohe Dunkelziffer an psychisch erkrankten Personen gibt. Denn aus Angst vor Stigmatisierung trauen sich viele nicht, Hilfe zu holen oder geben bei der Suche nach einem Therapieplatz auf. Die Entscheidungen des G-BA, insbesondere zur Bedarfsplanung (Bedarfsplanungs-Richtlinie), müssen nach den allgemeinen Kriterien für Prognoseentscheidung gerichtlich überprüfbar sein. Gleiches soll für die regionalen Bedarfspläne der Kassenärztlichen Vereinigungen gelten. Durch Beschluss kann der Deutsche Bundestag feststellen, dass die Versorgungssicherheit nicht gewährleistet ist und eine vorläufige Regelung treffen, bis zu einer neuen Entscheidung des G-BA.
- Psychische Gesundheit ins Startchancen-Programm: Wir wollen im Rahmen des Startchancen-Programms sicherstellen, dass an allen teilnehmenden Schulen ausreichend Schulsozialarbeiterinnen und -sozialarbeiter sowie ein schulpsychologisches Beratungsangebot bereitstehen.
- Ausbildungsprogramm für ukrainische Geflüchtete: Krieg gehört zu den schrecklichsten und einschneidendsten Erfahrungen, die ein Mensch durchleben kann. Die Folgen können das gesamte zukünftige Leben beeinträchtigen. Wir wollen deshalb die Ukrainerinnen und Ukrainer, die ihr Land und ganz Europa so tapfer verteidigen, bei der Bewältigung dieser Folgen unterstützen. Dazu wollen wir ein Stipendienprogramm für ukrainische Geflüchtete auflegen, um ihnen die Chance zu geben, zu Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ausgebildet zu werden.